Der Versuch, liebenswert zu sterben (wenn man kann)
Von Peter Pisa
Endlich Literatur zu einem Thema, das alle betrifft, und keiner spricht darüber.
Noch dazu Literatur von Paul Auster, einem der wichtigsten Schriftsteller Amerikas. Normalerweise zieht er in seinen Romanen doppelte Böden ein, bastelt Falltüren, richtet Spiegelkabinette her, in dem die Leser seit „Stadt aus Glas“ 1985 nicht herausfinden (wollen).
Narben schauen
Jetzt kümmert er sich um das überwältigende Bedürfnis, die Blase zu entleeren.
Ein totgeschwiegenes universelles Dilemma, wenn weit und breit keine Toilette ist.
Auster hat deshalb sogar einen Autounfall mit Totalschaden verursacht. Zu unkonzentriert war er am dringenden Heimweg gewesen.
66 ist er. Als er „Winterjournal“ zu schreiben begann, war er 63. Es schneite damals in Brooklyn. Der letzte Satz stand vermutlich schnell fest:
„Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.“
Paul Auster macht Inventur. Er betrachtet seine Narben, schaut zurück auf frühere permanente sexuelle Erregungen, auf die 21 Wohnsitze seit Geburt – in der Hoffnung, dass wieder Frühling wird.
Einen provozierenden Aphorismus des französischen Moralisten Joseph Joubert hat er dabei immer im Hinterkopf:
„Man muss liebenswert sterben (wenn man kann).“
Gern husten
Ein mutiges Buch. Sehr persönlich. Man denkt ja vielleicht: Wow, ein prominenter Schriftsteller, der noch dazu so dunkel und so fesch aussieht ... was für ein interessantes Leben wird der wohl haben!
„Winterjournal“ ergänzt: Paul Auster fallen Zähne aus, und er lässt sich keine neuen einsetzen.
Er raucht Zigarillos und hustet jeden Morgen wie ein Irrer. Dabei denkt er an einen Freund, der auf die Frage, warum er rauche, regelmäßig antwortet: „Weil ich gern huste.“
Er trinkt zu viel Whisky.
Er hatte Panikattacken und Herzrasen und Netzhautrisse, ein Nagel bohrte sich knapp unter sein Auge, an einer zehn Zentimeter langen Gräte wäre er fast erstickt usw.
Paul Auster redet, bevor es zu spät ist. Seine Poesie über das Junggewesensein und das Älterwerden ist melancholisch und umfasst ein paar Prozente seiner Autobiografie. Er redet mit sich selbst, so in der Art:
„Das Essen, das du als Kind geliebt hast ...“
Bissiger hätte er dabei sein können. Wenn schon, denn schon. Aber er streichelt lieber sich, und ganz besonders streichelt er die Frau, mit der er seit 30 Jahren verheiratet ist:
Die Schriftstellerin Siri Hustvedt hat vermutlich wirklich den schönsten langen Hals der Welt.
„Winterjournal“ ist sehr körperlich. Das geht bis in die Badewanne, allerdings zu Zeiten, als Paul Auster Kind war und gern Feuerwehrmann geworden wäre.
Da sitzt er im Wasser und freut sich, dass sein Penis Ähnlichkeiten mit einem Feuerwehrhelm hat.
Ein erhebender Moment gewiss.
Viel jünger
Der französische Schauspieler Jean-Louis Trintignant – 83 wird er im Dezember – hat Paul Auster einst bei einer zweisprachigen Lesung in die Augen geschaut: „Wie alt sind Sie?“
57.
„Paul, ich möchte Ihnen etwas sagen. Mit 57 habe ich mich alt gefühlt. Jetzt, mit 74, fühle ich mich viel jünger als damals.“
Die Bemerkung verwirrte Paul Auster.
Allmählich versteht er.
KURIER-Wertung: