Nur bei Lucia Berlin konnten üble Gerüche "nett" sein
Von Peter Pisa
"Warten Sie! Lassen Sie mich erklären" (so spricht Lucia Berlin manchmal ihre Leser an) ... "Bitte missverstehen Sie mich nicht, ich bin nicht auf Psychiater fixiert oder sowas" ...
2015, das war elf Jahre nach ihrem Tod, wurde die US-Amerikanerin entdeckt. Insgesamt 76 Erzählungen stammen von ihr, autobiografische, aber immer erst dann aufgeschrieben, wenn sie Distanz hatte und genügend Galgenhumor aufbrachte.
Dann wurden ihr die Wörter zu Orten, an denen sie sich geborgen fühlte.
Denn solche Orte gab es nicht viele in dem Leben, das Lucia Berlin von Alaska nach Texas, nach Chile, Mexiko, Kalifornien, Colorado ... führte; ein ruheloses Leben, das die "höhere" Tochter eines Bergbauingenieurs Putzfrau werden ließ bei Missis Jessen, die 140 Paar GLEICHE Schuhe hatte; ein Leben, das sie buckelig machte, missbraucht vom Großvater und alkoholkrank; drei Mal war sie verheiratet, vier Kinder hatte sie.
Wie Miles Davis
Jetzt wird sie mit Tschechow verglichen, mit Alice Munro und mit Richard Yates – mit dem sie zumindest gemeinsam hatte: beide waren mit einer Sauerstoffflasche unterwegs.
Manche meinen in ihren kurzen Geschichten Janis Joplin singen zu hören (ihr selbst wäre der Sound von Miles Davis erstrebenswert gewesen, so wie in "Those dark Arkansas roads" ), und alles ist ein bisschen richtig, und alles ist ziemlich falsch.
Lucia Berlin ist sehr eigen. Unverwechselbar. Einen Satz wie "Üble Gerüche können nett sein" wagt kein anderer Schriftsteller. Ihr amerikanischer Herausgeber spürt im sonst so schrecklichen Wort "nett" in ihrem Fall sogar eine Tiefe.
Die Beschreibung "Ein Auto, dem die Haare zu Berge standen" gehört ebenfalls ihr allein. Man kann sich’s schwer vorstellen, man muss es im Ganzen lesen, es passt, es ist treffend und fröhlich auch noch dazu.
Die unter dem Titel "Was ich sonst noch verpasst habe" übersetzte Sammlung von 30 Erzählungen zeigt nebenbei die hohe Geschwindigkeit, mit der Lucia Berlin Menschen von "oben" und von "unten" aufeinander treffen lässt.
Im Waschsalon, im Autobus, in der Entzugsklinik; beim Abtreiben, beim Stehlen und Sterben, und es reichen wenige einfache Sätze, um aufblitzen zu lassenn, was Menschsein ausmacht.
Der Weg ihrer Geschichten, beginnend mit der Schule und Nonnen, endet mit einem Blick auf den Ahornbaum, wenn abends die Krähen kommen. Bei Lucia Berlin ist das ein trauriges Bild ... zum Freuen.
Lucia Berlin:
„Was ich sonst noch verpasst habe“
Übersetzt und mit einem
Vorwort von Antja Rávic Strubel.
Arche Verlag.
384 Seiten.
23,70 Euro.