Kultur

Nur langsam merkt man, dass hier eine Lunte brennt

Da darf man sich nicht erhoffen, endlich Antworten zu bekommen. Die großartige Verunsicherung, für die Norbert Gstrein in „Eine Ahnung von Anfang“ sorgt, führt so weit, dass man gezwungen ist, sich selbst zu fragen:

Könnte auch ich mit einer Bombe drohen – und warnen so in der Art: „Kehret um!“?

Könnte auch er? So überlegt ein Lehrer, der eben in der Zeitung von einer derartigen Drohung auf dem Bahnhof „seiner“ Provinzstadt erfahren hat. Er starrt auf das Fahndungsfoto:

Das könnte Daniel sein.

Daniel, sein ehemaliger Schüler. Sein bester. Sein Lieblingsschüler, der ihn, den Lehrer, einen Sommer lang im paradiesischen Häuschen am Fluss besucht hat.

Sodass damals über Homosexualität getratscht wurde bzw. über Wehrsportübungen, weil mittels selbst gebastelter Bögen Pfeile auf vorbeifahrende Eisenbahnen geschossen wurden (oder auch nicht).

Fundamentalist

Man diskutierte den Sinn des Lebens. Der Lehrer versorgte den Pubertierenden mit Büchern. Broch, Camus ... Bücher, die auch der Bruder des Lehrers sehr ernsthaft gelesen hatte.

Und sich danach umbrachte.

Bei Daniel kam noch hinzu, dass ihm sein Religionslehrer mit der Bibel zusetzte; und ein Amerikaner, auf Besuch in der Stadt, von der Endzeit predigte.

Wenn aus ihm tatsächlich ein christlicher Fundamentalist geworden ist: Wer hat denn dann Schuld an seiner Radikalisierung?

Bücher sind gefährlich. Den einen tragen sie ruhig, ruhiger durchs Leben, dem anderen bringen die vielen Gedanken über die Leere, die Ungerechtigkeiten und Lächerlichkeiten nur Unglück; stoppen seinen – eigentlich angenehm gewesenen – Alltagstrott; werfen ihn aus der sicher geglaubten Bahn.

Was kann der Roman des in Hamburg lebenden Tirolers Norbert Gstrein?

Unangenehm bohren.

Alle Inhalte anzeigen
Nach seiner unnötigen Abrechnung mit der Suhrkamp-Chefin („Die ganze Wahrheit“, 2010) ist Gstrein wieder, was er durch „Einer“ und „Die englischen Jahre“ und „Das Handwerk des Tötens“ geworden ist: ein hoch geschätzter Schriftsteller.

Mit „Eine Ahnung vom Anfang“ ist ihm eine einfache, unspektakulär anmutende Geschichte gelungen, in der man nur langsam merkt, dass die Lunte brennt.

Der Lehrer (der Ich-Erzähler) konfrontiert sich mit eigenen explosiven Aussagen wie: „Man hat als Lehrer versagt, wenn man sich jahrelang abmüht, und am Ende kommen nur nützliche Glieder der Gesellschaft heraus. Alles besser als ein normales Leben, alles besser, als einer von den Kaspern zu werden, die den ganzen Schwachsinn am Laufen halten ...“

KURIER-Wertung: ***** von *****