Kultur

Nicht aufhören, Fragen zu stellen

Anna Weidenholzer, 1984 in Linz geboren, ist unter jenen 20 Autorinnen und Autoren, die heuer Chancen auf den Deutschen Buchpreis haben.

Es sollte (eigentlich) selbstverständlich sein, dass sie mit ihrem am Montag erschienenen Roman "Weshalb die Herren Seesterne tragen" unter die sechs Finalisten kommt.

Das liegt am Karl.

Der pensionierte Lehrer hat sich jene Fragen organisiert, mit denen das Königreich Bhutan in den 1970er- Jahren das Bruttonationalglück ermittelte.

Das sei entscheidender als das Bruttosozialprodukt, hat der König damals entschieden: Wachstum sei ein Mittel, aber nicht das Ziel.

Karl hat die Fragen etwas europäisiert. Mit der Frage, ob jemand in der Nacht Angst vor Geistern habe, wollte er die Österreicher nicht behelligen.

Diffuse Angst

Lieber so in der Art: Wie ist Ihr Familienstand? Hatten Sie in der vergangenen Woche Angstgefühle? Wann haben sie zuletzt Blumen gekauft?

Sich mehr nach der Zufriedenheit der Menschen zu erkundigen, das bedeutet ja auch: sich mehr nach dem Leben der anderen zu erkundigen.

"Das halte ich für enorm wichtig", sagt Anna Weidenholzer im KURIER-Gespräch.

"Vor Kurzem wurde der Global Peace Index veröffentlicht – Österreich ist demnach nach Island und Dänemark das drittsicherste Land der Welt. Und trotzdem frisst sich diese Angst in unsere Gesellschaft und spaltet sie, eine Verlustangst, eine diffuse Angst vor dem Anderen und der Welt. Sich diese Ängste anzuhören, sie ernst zu nehmen, bedeutet auf keinen Fall, sie gutzuheißen. Aber es bietet eine große Möglichkeit, ihnen entgegenzuwirken."

Im Buch findet sich der Schlüsselsatz:

"Wir dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen, und wir müssen viele sein."

Im Gemüsefach

Margit gehört nicht dazu. Margit ist Karls Frau. Als Karl im Fernsehen die Dokumentation über Bhutan gesehen hat, beschloss er, in österreichischen Dörfern nach der Zufriedenheit – oder besser: nach den Sorgen und Ängsten – zu forschen.

Warum ist die Unzufriedenheit so groß?

Antworten auf die 127 Fragen könnten die Lösung bringen, hat Karl gemeint.

"Ja, Karl, bestimmt", hat Margit müde zu ihm gesagt. Sie hält ihn für einen Trottel.

Wenn sie den Schlüssel für die Garage nicht findet, verdächtigt sie ihn (obwohl zuletzt ihr der Schlüssel irrtümlich ins Gemüsefach gerutscht war).

Loriot’sche Züge hat diese Ehe. Jedenfalls fragt Margit ihren Karl garantiert nichts. Und er ... ist vor ihr geflüchtet, ohne es zu merken.

In einem schneelosen Wintersportort, er könnte in Tirol liegen, quartiert er sich im Hotel Post ein.

Zum Fragen kommt er kaum. Denn er wird gefragt. Und durchs Reden ergibt sich so manches: Karl hilft einem Mann, mit dem er sich rasch anfreundet, beim Zersägen eines Baumes, er plaudert mit einem Kind über die Farbe Grün, er streichelt den Hund der Wirtin, die geschiedene Wirtin ist ihm auch nicht egal ...

Karl lebt, er nimmt Anteil. Zwar redet und denkt er ständig an seine Margit daheim, die – geht sie jede Woche? alle 14 Tage – mit anderen Frauen tanzen geht und aus deren Familie die Weisheit stammt: Ein gutes Schnitzel ist eines, das ein Lächeln gesehen hat.

Aber, ehrlich, es könnte ein Leben ohne Margit geben ... die noch dazu keine Blumen mag, weil sie nach Friedhof reichen, ihrer Meinung nach.

Au weia!

Umarmung

Anna Weidenholzer erzählt von Unspektakulärem derart, dass es spektakulär in Kopf und Herz rauscht.

Mit ihrem allerersten Roman "Der Winter tut den Fischen gut" verpasste sie 2013 knapp den Preis der Leipziger Buchmesse, gewann aber im Internet die Publikumswahl.

Die in Wien lebende Oberösterreicherin hatte sich beim Debüt um Maria gekümmert– eine Frau um die 50, verwitwet, arbeitslos.

Manchmal schrieb sich Maria selbst eine SMS.

Karl umarmt sich manchmal selber.

Die sechs Finalisten werden am 20. September bekannt gegeben, der Sieger am 17. Oktober. Er bekommt 25.000 Euro, und vor allem wird man ihr/ihm Fragen stellen. Wir dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen.

Anna Weidenholzer:

„Weshalb die Herren Seesterne tragen“
Verlag Matthes & Seitz. 192 Seiten. 20,60 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern