Kultur

Munch: Dokumentarist der Seelenschatten

Er sah "alle Menschen hinter ihrer Maske: bleiche Leichen, die rastlos auf einem geschlungenen Weg davonei-len, dessen Ende der Tod ist."

Alle Inhalte anzeigen
Ein verlässlicher Besuchermagnet, das ist Edvard Munch (1863–1944), dessen Kunst um eine Frage kreist: Was ist das Leben?

Schon die große Retrospektive vor zwölf Jahren hatte "mehr Besucher als alle Albertina-Ausstellungen in den zehn Jahren davor in Summe", erinnert sich Direktor Klaus Albrecht Schröder.

Experimentierfreudig

Der Norweger, für den die Grafik auf gleicher Höhe wie die Malerei stand, gehöre neben Dürer, Rembrandt, Goya und Picasso zu den bedeutendsten Grafikern überhaupt. Und zu den experimentierfreudigsten seiner Zeit, wie die von Dieter Buchhart kuratierte Schau "Edvard Munch. Liebe, Tod und Einsamkeit" (bis 24. 1.) zeigt.

"Wie Leonardo da Vinci das Innere des Körpers studierte und Leichen sezierte, so versuche ich, Seelen zu zerlegen", sagte Munch. Und weil er sich mehr als Dichter denn als Maler verstand, so wie sich August Strindberg eher als Maler denn als Poet sah, finden sich gleichrangig Text-Zitate zwischen den etwa 120 Lithografien, Radierungen und Holzschnitten.

"Das Bild ist eine Warnung", heißt es da. "Es sagt, dass die Liebe Hand in Hand geht mit dem Tod. Dabei ist es nur eine Frau, die ihren Mann auf den Nacken küsst." Ein Sujet thematisiert Angst. Munch, der Dokumentarist der Seelenschatten, kennt auch den Blick des Eifersüchtigen. Er "ist forschend, voll Hass und Liebe".

Im Mittelpunkt: Sein "Lebensfries", ein Bilder-Zyklus als "ein Gedicht vom Leben, von der Liebe und vom Tod empfunden". Fast alles, was der Künstler in Leinwandbildern darstellte, findet sich auch im druckgrafischen Werk wieder, u. a. "Der Schrei", das bekannte, alle menschlichen Ängste bündelnde Gesicht, die barbusige "Madonna" in leidenschaftlicher Pose, "Der Kuss", die enge Umarmung zweier Liebender, und "Melancholie".

Munch verstand sich darauf, wirkungsvoll die Grautöne und das Schwarz-Weiß in der Radierung einzusetzen, war ein Meister des farbigen Holzschnitts, wobei er auch die Materialität der Holzstruktur zur Geltung bringt. Und er beherrscht die plakative Flächenwirkung der Lithografie. Farbe, Körnung, Flecken, Fasern und Unebenheiten – alles spielt mit bei Munch, der die Möglichkeiten seiner "grafischen" Malerei experimentell ausreizt bis an die Grenzen des Mediums.

Es sind die Aggregatszustände der menschlichen Existenz, Gefühlswelten einzelner Lebensphasen, die hier – zeitlos gültig – vorgeführt werden: die Unsicherheit der Pubertät, die Intensität der Sexualität, der Schmerz der Trennung, die Erfahrung des Verlassenseins, die Lebensangst des Menschen der Moderne, seine Einsamkeit und seine Furcht vor dem Tod.

Während Munch sein eigenes Leben als etwas sah, "das nicht einmal den Anschein von Glück kennt, ja sich gar nicht nach Glück sehnt."