"Morgen werde ich 20": Ein Bub erzählt von Afrika
Von Peter Pisa
Bei Onkel René hängen Fotos von Lenin und Marx und Engels an der Wand. Aber er fährt alle paar Monate ein neues Auto.
Onkel René ist folglich ein kommunistischer Kapitalist.
Und was ist Michel?
Zehn ist er. Das vor allem. Und dann ist er noch etwas: verunsichert.
Denn Papa Roger hat einen sogenannten Radiorecorder nach Hause gebracht. Mama Pauline und Michel sollen darüber nicht in der Öffentlichkeit reden. Niemand soll wissen, dass sie RICHTIGE Kapitalisten geworden sind.
Ein Chanson
Michel verrät es trotzdem seinem Freund.
Und dass Papa Roger auch eine Musikkassette gebracht hat. Da singt jemand von einem Baum, den er nie aus den Augen hätte verlieren dürfen. Deshalb weint er jetzt so.
"Ist er ein Weißer?" fragt der Freund.
Michel antwortet: "Was glaubst du, wer weint sonst um einen Baum, wenn nicht ein Weißer?"
(Gemeint ist der Chansonnier George Brassens, und der Baum, von dem er singt, das ist er selbst bzw. ein Teil von ihm.)
Viele Stimmen
So liest sich in "Morgen werde ich zwanzig" einer der vielen kleinen Höhepunkte.
Halten wir fest: Der Roman spielt in der Republik Kongo, in der Hafenstadt Pointe-Noire – und zwar etwa 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von Frankreich, also in den Siebzigern.
Erzähler ist der Bub ...
... mit der Sprache von Alain Mabanckou: geboren 1966 in Pointe-Noire (die Mutter hieß Pauline, der Vater hieß Roger, beide sind tot), als Jusstudent nach Paris ausgewandert.
Er hat Afrika schon in mehreren hochgelobten Romanen (z. B. "Zerbrochenes Glas") eine Vielfalt von Stimmen gegeben, und jetzt ist es eine Kinderstimme (eine überzeugende), die uns in ihrer Naivität viel über den ganzen Kontinent sagt.
Der Schlüssel
Michel beschäftigt sich dank des Radiorecorders nicht allein mit dem Kongo, sondern auch mit Idi Amin und dem Schah und den Palästinensern – und das Weltgeschehen mischt sich mit dem Alltäglichen:
Zum Beispiel hätte Mama Pauline gern noch ein Baby, ein Mädchen diesmal, aber ein Schamane behauptet, ihr Bauch wäre zugesperrt und der Sohn hätte den Schlüssel.
Also wird Michel den Schlüssel hergeben müssen, irgendwie ...
Am Montag., 23. Februar, ist Alain Mabanckou zu Gast in der Wiener Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz.
KURIER-Wertung:
INFO: Alain Mabanckou: „Morgen werde ich zwanzig“ Übersetzt von Sabine Müller und Holger Fock. Liebeskind Verlag. 368 Seiten. 22,70 Euro.