Michael Stavarič: Wahnsinnig in Gottland
Von Peter Pisa
Der schwedische Krimischriftsteller Håkan Nesser hat einmal gesagt:
"Die Insel Gotland ist gute Medizin."
Bei Charles war das nicht der Fall. Bei Charles brach während seines Urlaubs auf Gotland auf Gottland – diese Verbindung musste einfach hergestellt werden – der Wahnsinn aus.
Er bildete sich ein, einen Engel zu sehen und lockte ihn in einen Hinterhalt. Danach tötete er Gott.
Aber vielleicht tötete er gar nicht den Allmächtigen, sondern DIE Allmächtige:
Mutter.
Wild
Ist der Roman "Gotland" wirklich von Michael Stavarič, dem gebürtigen Tschechen aus Brünn, der seit dem siebenten Lebensjahr in Österreich lebt? Man kann ihm diesmal nämlich recht gut folgen.
In seinem wilden Dickicht blühte immer schon Literatur. (Aber jetzt gibt es Lichtungen. Freie Plätze, auf denen man sich kurz ausruhen kann.)
In "Terminifera" etwa brachte er einen Krankenpfleger und seltene Wanderheuschrecken auf der Mariahilfer Straße zusammen; außerdem lernte man: Mit Würmern kann man sich zur Not seine Schuhe zubinden.
Das war hart.
Stavarič zum KURIER: ",Terminifera’ ist wirklich schwer zu lesen und nachzuverfolgen. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ich tief drinnen in mir weiterhin ein Lyriker bin. Ich schreib’ im Grunde Gedichte, die recht erzählend sind."
Übertrieben
In "Gotland" jedoch will er seinen Charles auf den Punkt bringen. Den pathologischen. Am Ende kommt ein echt klingendes Gerichtsgutachten zum Schluss: schizoaffektive Psychose, nicht zurechnungsfähig.
Charles ist Sohn einer Wiener Zahnärztin. Vater unbekannt. Die schöne Mutter ist übertrieben fürsorglich. Übertrieben anhänglich.
Übertrieben religiös.
Eine schreckliche Mischung. Sie kauft auf Flohmärkten Kruzifixe, denn das sei Pflicht der Katholiken: Jesus müsse von dem schäbigen Ort fortgebracht werden ...
Im Volksschulalter hat Charles ein Vogelbaby auf einen Scheiterhaufen gesetzt und angezündet – weil Gott, wie bei Abraham und Isaak, das Opfer verhindern wird.
Danach war er nicht mehr so gläubig. Umso verwirrender war der Engel auf der schwedischen Insel ...
Stavarič: "Ich finde Religion an sich reizvoll. Auch die Metaphysik. Ich finde nur die Kombination mit dem Menschen fatal. Religion ist echt nur was für Fortgeschrittene. Und das trifft auf 99 Prozent der Menschen eben nicht zu."
Sind Mütter noch gefährlicher als Religion?
"Mütter sind ja lange Zeit unsere Religion. Bis – wenn man Glück hat – bis diese Religion von der Ironie abgelöst wird."
... und dann fällt der Sprachwanderer in einen Wiener Fantasiedialekt: 58 Jahre nach H.C. Artmanns "med ana schwoazzn dintn" hat Michael Stavarič "in an schwoazzn kittl gwickelt" gedichtet.
Dieses Buch, kürzlich im Czernin Verlag erschienen (17 Euro), klingt fallweise wie die Fortsetzung von "Gotland" – wenn einer wie Charles hofft, ein Therapeut kehrt in seinem Kopf zusammen,
"wos aus di gonzn regal und
schrenk aussa gfolln is
im lauf dea johr ..."
Es ist allerdings fraglich,
"ob so a kopf ibahaupt an bodn hot
wo des oild no rumliagt?
ob ma des no richtn koan?"
Michael Stavarič:
„Gotland“
Luchterhand Verlag.
352 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Als der Elsternkönig sein Weiß verlor
... und er nur noch schwarze Federn hatte, drehte er zunächst durch. Sein Volk musste alles Weiße schwarz machen. Das ging so weit, dass selbst die Wolken – und selbst der Schnee ...
Kurz kommt das Märchen von Michael Stavarič, das Linda Wolfsgruber aufs Zarteste, Zärtlichste, Schönste illustriert hat (Bild oben), im Roman „Gotland“ vor.
Hier ist es selbst Buch geworden, hier wird der Elsternkönig alt – und sein Gefieder wird aus diesem Grund wieder weiß. Muss schön sein, von Vier-, Fünf-, Sechsjährigen zu hören, wie sie mit Stavarič – der auch ein mehrfach preisgekrönter Kinderbuchautor ist – und seinen Ideen umgehen.
Für die Kleinen gilt wie für die Größten:
„Die Deutungshoheit müssen die Leser übernehmen.“ Und die Vorleser. Und die Zuhörer.
Michael Stavarič und Linda Wolfsgruber:
„Als der Elsternkönig
sein Weiß verlor“ Kunstanstifter
Verlag, 36 Seiten. 24,70 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern