Kulturhauptstadt der Bauarbeiten
Von Georg Leyrer
Zehn, vielleicht sogar 20 Jahre dauerte die Diskussion – und beendet wird sie ein halbes Jahr zu spät.
Marseille, derzeit gemeinsam mit dem slowakischen Košice EU-Kulturhauptstadt, bekommt ein spektakuläres Museum. Der auffällige graue Würfel mit seiner langen Vorgeschichte verlockt den Besucher beim Flanieren zwischen altem Hafen und Kathedrale schon jetzt zu einem Besuch.
Doch wie bei EU-Kulturhauptstädten längst gewohntes Spiel, wird vor der Eröffnung des Prestigeprojekts das halbe Jahr verstrichen sein. Marseille sei derzeit „Hauptstadt der geschlossenen Museen“, ätzte der Figaro kürzlich aus dem fernen Paris.
Weltmuseum
Am 7. Juni erst wird der 190- Millionen-Euro-Bau eingeweiht; noch dazu beeinträchtigen die Bauarbeiten am Areal auch den Besuch weiterer Touristenattraktionen wie das nächstgelegene Fort Saint-Jean, das ebenfalls restauriert wird. Nach der Museumseröffnung aber hat Marseille das, was in Wien jüngst den Namen „Weltmuseum“ bekommen hat: ein zeitgemäßes Museum für die vielfältigen Kulturen. Im Fall des „MuCEM“ genannten Hauses in Marseille sind das speziell die Zivilisationen Europas und des Mittelmeerraums. Dem widmet sich das MuCEM. Und die südfranzösische Stadt, mit ihrem seit 2600 Jahren genutzten Hafen und dem streng von Frankreich weg aufs Mittelmeer fixierten Blick, ist dafür genau der richtige Ort: Paris scheint hier ferner als Nordafrika, die von Griechen gegründete Stadt hat viel internationalen Flair.
Wie viele andere Kulturhauptstädte nützt Marseille die touristische Aufmerksamkeit und die finanziellen Zuwendungen für ein Facelifting. Auch an der geplanten Luxus-Shopping-Mall turnen Bauarbeiter herum: dort, an den touristisch günstig unter der Kathedrale Sainte-Marie-Majeure gelegenen Docks, sollen hochwertige Konsumlockrufe in Richtung Côte-d’Azur-Publikum ausstrahlen.
Hinfahren
Was nötig ist: Denn die eher spröde Schönheit Marseille ist zwar dank Hochgeschwindigkeitszug nur drei Fahrstunden von Paris entfernt. Doch war Marseille zuletzt mehr mit Kriminalität als mit Küstenidylle in den Medien. Und dadurch eher ein Ort zum Umfahren als zum Hinfahren. Das soll sich ändern, nicht zuletzt auch durch das von Rudy Ricciotti entworfene MuCEM. Mitten im Wasser steht der Bau, der weniger durch seine wuchtige Form als durch seine gemusterte Fassade auffällt. Es ist nicht der einzige (unfertige) Prestigebau: Auch das Kulturzentrum Cerem etwa, das einem riesigen 16-Meter -Sprungbrett ins Meer gleicht und zu einem Großteil unter Wasser liegt, versammelt einen Teil jener 600 Millionen Euro, die Marseille investiert. Vorerst jedenfalls gilt es, den „Fleckerlteppich“ der verzögerten Bauarbeiten abzuschließen, unkt der Figaro. Dann will Marseille mit der Strahlkraft der Kultur ein zweites Barcelona werden.
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KURIER-Wertung: **** von *****