Kultur

"Macbeth": Der kontrollierte Wahnsinn

Es war keine Premiere; es ging noch dazu um eine sogenannte Skandal-Inszenierung, die vieles von jenen Dingen – nackte Männer! Gruppenpinkeln! – zeigt, die viele Opernfreunde wenig goutieren.

Und dennoch: So viele Pappkartons, Zettel, Schilder mit der Aufschrift "Karte gesucht" wie vor Beginn von Verdis "Macbeth" am Freitag in München sieht man selten. Der Last-Minute-Andrang auf die seit langem ausverkaufte Vorstellung in der Bayerischen Staatsoper war ein deutliches Zeichen für die anhaltende Strahlkraft des Stars des Abends, Anna Netrebko.

Erstmals war Netrebko nämlich in der fordernden Partie der Lady Macbeth in Verdis Shakespeare-Oper zu hören; im Herbst präsentiert sie diese Erweiterung ihres Repertoires auch an der New Yorker Met. Und das mit Spannung erwartete Rollen-Debüt im Rahmen der Münchner Opernfestspiele geriet zum außergewöhnlichen Erfolg.

Wild

Das wünscht man sich als Operngeher: Sänger, die man nicht mühsam akustisch aus dem Orchesterwulst klauben muss, sondern die so präsent, so unmittelbar sind, als ob sie keine fünf Meter entfernt singen. Schon beim ersten Auftritt Netrebkos, mit wildem roten Haar und ebenso wildem Blick, war klar: Die Sopranistin wollte sich an den neuen Tönen, an den neuen Emotionen beweisen.

Sie ging mit voller Wucht daran, das auf Blut gebaute Kartenhaus der Macht zu errichten. Und zwar sowohl stimmlich als auch mit ganzem darstellerischen Einsatz – und auch hier ist Netrebko bekanntlich eine Klasse für sich. Sie beherrschte die Aufführung, und das war keine leichte Übung. Denn immerhin wartete der luxuriös besetzte Abend mit zwei weiteren herausragenden Stimmen auf: Simon Keenlyside war ein faszinierender Macbeth; Joseph Calleja ein strahlender Macduff.

Netrebko aber bot jenes letzte, entscheidende Quäntchen an Außergewöhnlichkeit, das einen Opernabend zum Ereignis macht, und eine Sängerin einzigartig. Wie Netrebkos Lady Macbeth am schmalen Grat zwischen Panik und Kontrolle balancierte und die zunehmend aufklaffenden Abgründe spürbar machte; wie unangestrengt sie ihre Stimme führte, wie wirkungsmächtig und zugleich berührend sie singt: Es war leicht, sich zu begeistern, und das Publikum applaudierte nach Kräften.

Nach unten

Es ist eigentlich eine Auszeichnung für die Sängerin, dass man selbst in dieser Performance noch Raum nach oben ortet. Oder eigentlich: Raum nach unten. Netrebkos Lady entrückt letztlich mit allzu viel Kontrolle in den Wahnsinn: die innere Welt geht unter, aber die Stimme hält. Bei einer späteren Lady Macbeth Netrebkos würde man gerne andere Facetten von Intensität kennenlernen, rauere, unmittelbarere. Stimmliche Fühler in Richtung jener Unsanglichkeit also, die Verdi sich für die so skrupellose Antreiberin im grausamen Spiel um den Thron wünschte. Hier, im Mut zur Entäußerung, ist die Darstellerin Netrebko der Sängerin Netrebko voraus.

Doch schon das Rollendebüt war ein verheißungsvoller Schritt in vielleicht neue Karrierebahnen der Sängerin. Apropos Karriere: Die "Macbeth"-Inszenierung war 2008 der (umstrittene) Einstand des ehemaligen Burgtheater-Chefs Nikolaus Bachler als Münchner Opernchef. Sie stammt vom Österreicher Martin Kušej, der wiederum als möglicher künftiger Burgtheater-Chef hoch gehandelt wird.

Zwischen Totenkopf-Bergen und weißen Plastikplanen lässt die anhaltend gut funktionierende, abstrakte, aber hoch emotionale Inszenierung immer wieder intime Momente entstehen. Etwa beim Ringen von Macbeth und seiner Frau um die Opfer für die Macht; oder als Lady Macbeth, schon dem Wahnsinn verfallen, im Taschenlampenlicht auf Händen hinweggetragen wird.

Besonderer Dank des Münchner Publikums galt zuletzt auch dem Dirigenten Paolo Carignani: Der komplettierte nämlich den herausragenden Abend mit einer rundum gelungenen Interpretation, die der Sängerfreundlichkeit nichts an Dynamik opferte.

KURIER-Wertung:

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