Ludwig Wittgenstein: Von der Fliege im Fliegenglas
Spurensuche im hohen Norden nach dem vielleicht bedeutendsten österreichischen Denker des 20. Jahrhunderts. Einem Mann von besonderem Ruf, über dessen Ankunft in Cambridge John Maynard Keynes Anfang 1929 sagte: "Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug."
Exzentrisch
Ludwig Wittgenstein (1889– 1951), Millionenerbe eines schwerreichen Stahlindustriellen, ein Grübler und Zweifler, ein Sonderling, der mit Schafen und Kühen sprach, kein verrücktes Genie, aber ein hypersensibler, innerlich zerrissener und zeitweise depressiver Mensch.
"Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen" sei das Ziel seiner Philosophie, so Wittgenstein. Sein Credo war: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."
Österreich in Norwegen
Norwegen war für ihn das Land der Ruhe und der Zuflucht. Die erste Urlaubsreise 1913 brachte ihn auf die Idee, dort für einige Zeit zu bleiben, um an seinen philosophischen Theorien zu arbeiten und dem für ihn belastenden Universitätsalltag zu entfliehen.
Und dass Österreich im Südwesten Norwegens am Ende des mehr als 200 Kilometer langen Sognefjord liegt, kam so: Dort hatte sich der Philosoph mit dem übergroßen Bedürfnis nach Einsamkeit rund 30 Meter über dem See Eidsvatnet gegenüber von Skjolden, einem 300-Seelen-Dorf, nach eigenen Plänen ein Holzhaus bauen lassen.
Die Ortsbewohner nannten das Refugium Østerrike: "Österreich". Er genoss den "stillen Ernst" der norwegischen Fjordlandschaft und arbeitete dort, fernab des Universitätsbetriebs, außer an den "Philosophischen Untersuchungen" vor allem an seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung: Das Werk, 1921 erschienen, erlangte unter dem Titel "Tractatus logico-philosophicus" Weltruhm und beeinflusste zahlreiche Werke der Literatur, Musik, Malerei, Architektur und des Films.
In Skjolden, 2500 km von Wien, 350 km von Oslo und 250 km von Bergen entfernt, wo es übrigens an der Universität eine Wittgenstein-Forschungsstelle gibt, lebte er als Einsied- ler asketisch und spartanisch. Nur einmal in der Woche ruderte er mit dem Boot von seinem Haus über den See ins Dorf zum Einkaufen. Im Winter ging er in Schneeschuhen über den gefrorenen See.
"Als ich übrigens in Norwegen war, im Jahre 1913-14, hatte ich eigene Gedanken, so scheint es mir jetzt wenigstens", schrieb der oft von Selbstzweifeln geplagte Wittgenstein. "Ich meine, es kommt mir so vor, als hätte ich damals in mir neue Denkbewegungen geboren (aber vielleicht irre ich mich). Während ich jetzt nur mehr alte anzuwenden scheine."
Er lieferte bedeutende Beiträge zur Philosophie der Logik, der Sprache und des Bewusstseins. Und prägte den viel zitierten Satz: "Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen." Die vordringlichste Aufgabe der Philosophie müsse es sein, unsere Sprache und ihre Funktionsweise zu verstehen. Denn so verstehen wir zugleich, was über die Welt überhaupt zu verstehen ist.
Wittgensteins große Bedeutung vor allem außerhalb der akademischen Zirkel auf Kunst und Kultur werde noch immer unterschätzt, heißt es in Fachkreisen.
Und Wittgenstein selbst fand: "Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die/eine Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht (Und was man von ihnen verlangt)."
Sigmund Freud hat schon ein Museum und Arnold Schönberg ein Center in Wien. "Wie sie soll hier in Zukunft auch Wittgenstein sichtbar, greifbar und präsent sein", wünscht sich Radmila Schweitzer von der Wittgenstein-Initiative.
Tractatus-Odyssee
"Ein erster Schritt dazu wäre – mit Zugang zu allen Quellen weltweit – eine permanente Ausstellung, die eventuell auch nach Norwegen und England exportiert werden könnte. Möglichst mit Unterstützung von der Stadt Wien und dem Bund."
2018 feiert Wien die Moderne unter dem Motto "Schönheit und Abgrund". Denn 100 Jahre zuvor starben mit Gustav Klimt, Egon Schiele, Otto Wagner und Koloman Moser vier Protagonisten der Wiener Moderne.
Aber neben anderen Persönlichkeiten wird auch Wittgenstein im Mittelpunkt einer Ausstellung stehen: "Die Tractatus-Odyssee" (15.10. bis 30. 11. 2018) im "Haus Wittgenstein", seit 1975 im Besitz der Republik Bulgarien und Heimat des Bulgarischen Kulturinstituts, wird das Leben des Philosophen mit Originaldokumenten und die Entstehung des Tractatus sowie dessen Wirkung auf die Kulturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts nachzeichnen.
Links: www.wittgenstein-initiative.com www.wittgenstein-foundation.com www.wienermoderne2018.info www.haus-wittgenstein.at
Wo geht’s hier zum Genie? Ein hölzerner Wegweiser mit der Aufschrift "Wittgenstein" schickt uns in den Wald und dann einen steilen Abhang hinauf. Und oben weht ein rot-weiß-roter Wimpel.
"Immer wenn Wittgenstein hier in seinem Häuschen mit dem fantastischen Blick in die Natur, Berge, Wälder und Wasserfälle, aber in totaler Abgeschiedenheit arbeitete", erzählt der Lokalhistoriker Harald Vatne in Skjolden, "dann sagten die Dorfbewohner: Der Philosoph ist in Österreich.’"
"Unglaublich", sagt Kjetil Trædal Thorsen, Mitbegründer des weltweit aktiven Architekturbüros Snøhetta, "er hat sich eine Stelle ausgesucht, wo es neben der Vertikale der Berge zwei Horizonte gibt, die Oberflächen des Sees, aber auch des Fjords."
1950 war Wittgensteins letzter Besuch in Skjolden am Ende des malerischen Lustrafjords. Eigentlich hatte er vor, sich längere Zeit in Norwegen niederzulassen, aber bereits ein Jahr später starb er. Sein etwa acht mal acht Meter großes Holzhäuschen in Østerrike am Fjord hatte er einem Einheimischen geschenkt. Der holte es ein paar Jahre später vom Hang, wo heute nur noch das Steinfundament übrig ist, und ließ es am Ortsrand wieder aufstellen. Wo es bis heute steht.
"Der Originalzustand ist zu 90 Prozent erhalten", sagt Vatne. Ohne Balkon, aber dafür mit Eternitverkleidung steht das Haus jetzt da. Sogar die Originalfenster sind noch in einem Schuppen gelagert.
Wo einer einmal die Gesetze der Logik lösen wollte, gehorchen Vatnes Pläne einer durchaus eigenen Logik. Mit Lokalpolitikern und Philosophen der Uni Bergen, unterstützt von Schriftstellern wie Jon Fosse und Jostein Gaarder, soll das Häuschen bereits 2018 wieder dort errichtet werden, wo es einst stand. Auf dass dann die Welt dorthin komme, wohin Wittgenstein dem eitlen Getriebe der Welt entfloh.