Literaturnobelpreis: Ein Schock für den Sieger
Von Peter Pisa
Er hat einen Bleistift und viele lose Seiten Papier, niemals ein Heft, niemals eine Schreibmaschine oder einen Computer, da würde er sich eingesperrt fühlen; und er schreibt, ohne zu korrigieren, immer an demselben Buch, mag es auch verschiedene Namen haben:
Ein Buch, das in das Vergessene dringt. Das die Zeit beschwört. Es mag ein altes Foto sein oder ein Zeitungsartikel, die auf den Weg zurück führen. Dann werden Sehnsüchte geweckt, etwa nach dem Paris der 1940-er Jahre, die Piaf singt ...
Patrick Modiano ist der Literatur-Nobelpreisträger 2014. Der 15. Franzose in der langen Liste. Er bekommt 870.000 Euro - und braucht doch vor allem sein langes rotes Sofa im 200 Jahre alten Pariser Wohnhaus und die Bücherberge rundherum.
Zum Zeitpunkt, als am Donnerstag um 13 Uhr in der Schwedischen Akademie in Stockholm ein Glöckchen läutete, als die Tür aufging und die Entscheidung verkündet wurde, war der 69-Jährige darüber noch nicht informiert worden: Es habe bisher keine Verbindung zu ihm im Pariser Wohnhaus hergestellt werden können, hieß es.
Seine schwedische Verlegerin befürchtete, man habe ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt.
Modiano ist ein unauffälliger, menschenscheuer Großer. Ein Kind, im Kriegchaos zur Welt gekommen, das Ruhe haben will.
Eine überraschende Wahl? Ja, aber es war eine angenehme Überraschung - nicht so wie vor sechs Jahren, als Modianos Landsmann De Clezio gewann und man sich offen wunderte: Warum denn jetzt ausgerechnet der?
Bei Patrick Modiano, der von Peter Handke 1985 für den deutschsprachigen Raum entdeckt worden ist, fragt man sich das nicht.
Geboren wurde er 1945 als Sohn eines jüdischen Geschäftsmanns und einer flämischen Schauspielerin in einem Pariser Vorort. Die Eltern hatten sich während der deutschen Besatzungszeit kennengelernt. Eine unglückliche Jugend im Internat ... Der Schock, als sein zehnjähriger Bruder starb ... Ihm ist alles, was Patrick Modiano bis 1982 geschrieben hat, gewidmet.
Sein Geometrielehrer war der Schriftsteller Raymond Queneau und brachte ihn auf die Spur. Seither geht der 1,92 Meter große Franzose selbst den Spuren nach, zunächst als eifriger Spaziergänger in Paris, dann als Schriftsteller, dessen Karriere 1968 mit "Place de l'Etoile" begann: Die Geschichte vom jungen, heimatlosen Juden namens Schlemilovitsch im besetzten Paris war auch Erinnerung an den Vater, der unter falschem Namen lebte und nicht wusste, wer er war.
Der Roman fand erst 2010 seinen Platz im Münchner Hanser Verlag. Danach aber kamen rasch "Im Cafe der verlorenen Jugend", ein trauriges Chanson über die 60er Jahre, und "Der Horizont" - eine verlorene Liebesgeschichte, über die im KURIER stand: "Schon lange war die Enttäuschung, dass ein Buch zu Ende ist, nicht mehr so groß."
Hier finden Sie die Kritik von "Der Horizont"
Geplant war der neue Roman "Gräser der Nacht" fürs Frühjahrsprogramm 2015, er wird - so Hanser-Verleger Jo Lendle - vorgezogen und schon in einigen Tagen erscheinen.
Patrick Modiano hat für seine leicht lesbaren, eleganten und nur scheinbar kleinen Geschichten viele Auszeiochnungen bekommen, auch den Prix Goncourt, auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (2012). Vergnügen bereitet ihm das Schreiben nicht. Eher ist es eine Notwendigkeit, um nicht zu vergessen.
Als der Verleger Antoine Gallimard seinem Autor Patrick Modiano telefonisch zum Literaturnobelpreis gratulierte, sei der Autor "sehr glücklich" gewesen, habe aber "mit seiner üblichen Bescheidenheit" geantwortet: "Das ist bizarr." Das sagte der Verleger am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Die Entscheidung sei eine große Überraschung gewesen und habe dem Verlag einen wunderbaren Tag beschert.
Unterdessen hat der französische Präsident Francois Holland Modiano "seine wärmsten Glückwünsche" ausgesprochen und "sein namhaftes Werk" gewürdigt, das "die Feinheiten der Erinnerung und die Komplexität der Identität erkunde".
Frankreichs Premierminister Manuel Valls hat die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an seinen Landsmann Patrick Modiano als verdient bezeichnet. Jeder kenne Modiano und habe seine Bücher der vergangenen Jahrzehnte gelesen, zitierte die französische Nachrichtenagentur AFP Valls am Donnerstag in Lille. Modiano sei ein Schriftseller des knappen und treffenden Stils.
"AUS TIEFSTEM VERGESSEN" (2000) ist eine Liebesgeschichte aus dem Paris und London der 1960er-Jahre. Ein Mann sieht in der Metro eine Frau, die vor dreißig Jahren seine Jugendliebe war und folgt ihr. Kritiker lobten die "klare, karge Sprache" Modianos, mit der er eine ganze Epoche zum Leben erwecke. ("Aus tiefstem Vergessen", Übersetzt von Elisabeth Edl, Hanser, 160 S., 15,40 Euro, ISBN 978-3-446-19848-7)
"UNFALL IN DER NACHT" (2006) erzählt von einem junger Mann, der in der Nacht von einem Auto gestreift wird. Er wird zusammen mit der Fahrerin leicht verletzt ins Krankenhaus gebracht, doch die Fahrerin flieht. Der junge Mann macht sich auf die Suche. Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb damals, wie immer bei Modiano versuche der Ich-Erzähler ein weit zurück liegendes Ereignis zu verstehen, und wie immer bleibe alles rätselhaft, die Vorgänge und auch die Suche selbst. ("Unfall in der Nacht", Übersetzt von Elisabeth Edl, Hanser, 144 S., ISBN 978-3-446-20716-5)
In seinem Werk "PLACE DE L'ETOILE" (2010) erzählt Modiano von der fingierten Autobiografie des jungen Raphael Schlemilovitch in Paris zur Zeit des Nationalsozialismus. Er ist mal "Kollaborationsjude", mal Liebhaber von Eva Braun, emigriert mit falschen Papieren und liegt bei Doktor Freud auf der Couch. Kritiker lobten Modianos Werk als "überwältigend" und "Geniestreich". Sein Debütroman erschien bereits 1968, wurde aber erst Jahrzehnte später ins Deutsche übersetzt. ("Place d' Etoile", Übersetzt von Elisabeth Edl, Hanser, 192., 18,40 Euro, ISBN 978-3-446-23399-7)
In Modianos Roman "DER HORIZONT" (2013) erinnert sich die Hauptfigur Jean Bosmans an seine kurze Romanze mit Margaret, die Jahrzehnte zurückliegt. Bosmans streift durch Paris und versucht, sein Leben an der Seite der rätselhaften Margaret zu rekonstruieren. Die Suche nach der Vergangenheit wird zur Suche nach dem Glück. Modiano zeigt in dem Roman, dass er ein Meister darin ist, mehr zu sagen als er schreibt und durch Andeutungen und Annäherungen den Kern der Realität zu treffen. ("Der Horizont", Übersetzt von Elisabeth Edl, Hanser, 176 S., 18,40 Euro, ISBN 978-3-446-23951-7)
Der Literaturnobelpreis wird seit 1901 von der Schwedischen Akademie in Stockholm vergeben. Die Preisträger-Auswahl läuft streng nach Tradition. Denn Zusammensetzung und Arbeitsweise der Sprach-Akademie richten sich nach Regeln, die auf die Gründung 1786 zurückgehen. Die Akademie hat normalerweise 18 Mitglieder - derzeit ist ein Sitz frei. Sie werden von der Akademie selbst auf Lebenszeit gewählt.
Bis zur endgültigen Abstimmung über einen Preisträger liegt die Hauptarbeit beim Nobelkomitee mit fünf Mitgliedern. Es wird für drei Jahre gewählt. Zurzeit gehören dazu: Per Wästberg (80) als Vorsitzender, die Schriftsteller Horace Engdahl (65), Kjell Espmark (84), Katarina Frostenson (61) und Kristina Lugn (65). Über die Beratungen für den Nobelpreis muss 50 Jahre Stillschweigen bewahrt werden.
Die Auswahl der Kandidaten verläuft schrittweise. Zuerst lädt das Nobelkomitee 600 bis 700 Personen oder Organisationen per Brief dazu ein, geeignete Literaten für das kommende Jahr vorzuschlagen. Empfehlungen können aber auch ehemalige Preisträger, Sprach- und Literaturwissenschaftler, wissenschaftliche Einrichtungen und Autorenorganisationen abgeben. Niemand darf sich selbst benennen.
Spätestens bis zum 31. Jänner müssen die Vorschläge in Stockholm vorliegen. Für 2014 gab es nach Angaben der Organisatoren 210 gültige Vorschläge. Das Nobelkomitee erstellt Namenslisten, die in der Akademie schließlich auf fünf Kandidaten reduziert werden.
Jedes Akademie-Mitglied - darunter schwedische Schriftsteller, Linguisten, Historiker und andere - beschäftigt sich dann mit dem Werk der Nominierten und erstellt Berichte. Das Geld für die Nobelpreise stiftete der Chemiker, Erfinder und Multimillionär Alfred Nobel (1833-1896).
Bisher ging der Literaturnobelpreis 15 Mal nach Frankreich - aus dem Land kam auch der erste Preisträger im Jahr 1901. In der Folge die Namen der Preisträger sowie der Titel je eines bekannten Werks:
2014: Patrick Modiano, "Der Horizont"
2008: J.M.G. Le Clézio, "Der Afrikaner"
2000: Gao Xingjian (geb. in China), "Der Berg der Seele"
1985: Claude Simon (geb. in Madagaskar), "Der Wind"
1964: Jean-Paul Sartre, "Der Ekel"
1960: Saint-John Perse, "Anabasis"
1957: Albert Camus (geb. in Algerien), "Der Fremde"
1952: François Mauriac, "Die Tat der Therese Desqueyroux"
1947: André Gide, "Stirb und werde"
1937: Roger Martin du Gard, "Die Thibaults"
1927: Henri Bergson, "Das Lachen"
1921: Anatole France, "Das Leben der heiligen Johanna"
1915: Romain Rolland, "Johann Christof"
1904: Frédéric Mistral, "Mireio"
1901: Sully Prudhomme, "Gedichte"