Kelly Clarkson: An Sexismus leider gewöhnt
2004 in einem Plattenfirmenbüro: Kelly Clarkson hat Clive Davis, dem Entdecker von Whitney Houston und Chef ihres Labels, gerade ihren Song "Because Of You" vorgespielt, den sie gerne aufnehmen möchte. Die Reaktion: Sie solle bezüglich Song-Auswahl den Mund halten. Außerdem wäre der Song schlecht und sie keine Songwriterin.
"Because Of You" zählt heute zu den beliebtesten Songs der Amerikanerin, die 2002 die erste Staffel von "American Idol" gewann. "15 Jahre lang kannte ich das Business nicht anders als so respektlos", erzählt Clarkson im KURIER-Interview. "Was ich wollte, was ich fühlte, wurde nie berücksichtigt. Ehrlich gesagt merke ich erst jetzt, wo ich etwas anderes kenne, wie schlimm das war."
Jetzt hat Clarkson ihr neues Album "Meaning Of Life" veröffentlicht, auf dem sie ansprechenden Soul-Pop macht. "Ausgangspunkt war mein Idol Aretha Franklin. Ich habe als Kind ihren Song ,I Never Loved A Man‘ gehört und bin seither besessen von ihrer Musik. Für mich müsste sie nicht einmal einen Text singen. Alleine der Klang ihrer Stimme, die so seelenvoll und Ausdruck dieses reichen Lebens ist, reicht mir. Deshalb ging ich mit meinen Produzenten diesmal von der Frage aus: Wie würde so eine Art Song heute klingen?"
Kompliment
Dass sie das, was ihrer Leidenschaft entspricht, gemeinsam mit dem Label und dem Produzenten entwickeln konnte, sagt sie, sei der große Unterschied zu früher. "Da hieß es nur: ,Pink hat den Song abgelehnt, sing du ihn. Destinys Child wollten das nicht machen, das ist etwas für dich!‘"
Sexismus sagt sie, sei im Pop-Business weit verbreitet. "Ich bin sicher, dass der Vorfall mit Clive Davis nicht sexistisch war. Denn das hat er auch mit Männern gemacht, das weiß ich, weil sie es mir erzählt haben. Aber ansonsten begegnet mir Sexismus an jeder Ecke. Erst neulich wieder – da kam das sogar von einer Frau! Sie sagte zu jemandem, der mit mir arbeitet: ,Ich bin erstaunt, dass Kelly so viel von Musiktheorie versteht!’ ‘ Ich dachte: ,Soll das ein Kompliment sein, weil du dachtest, ich bin ein Idiot?‘"
Seit der Kindheit, sagt sie, sei ihr das bekannt. "Ich bin aus dem Süden der USA. Da wächst man ohnehin immer mit dieser Doppelbödigkeit auf. Da sagen sie zum Beispiel: ,Schau auf deine Bildung, die ist wichtig. Aber werde nicht so gebildet, dass du Männer damit einschüchterst.‘ Auch wenn das traurig ist, aber ich bin es nicht anders gewöhnt."
Me-Too-Debatte
Die gegenwärtige "Me Too"-Debatte hat Clarkson aber trotzdem überrascht. "Ich bin nie sexuell belästigt worden. Aber offenbar hatte ich da sehr viel Glück. Denn mit all den Frauen, die da jetzt mit ihren Geschichten rauskommen, kann man nicht mehr negieren, dass das ein Riesenthema ist. Ich lese das und bin schockiert und verstört. Denn ich denke dann: Was hätte ich an ihrer Stelle getan? Aber ich finde nie eine Antwort!"
Mit ihrem Manager glücklich verheiratet, als Mutter von zwei eigenen und zwei Stiefkindern, mit einem Label, das sie als Künstlerin und nicht als Geldmaschine sieht , lebt Clarkson jetzt in einem "nie gekannten, fast surrealen Glücksgefühl".
Kein Opfer
Als Coach von "The Voice" kehrte sie jetzt auch wieder zu den Castingshows zurück. "Ich hatte den großen Vorteil die erste Gewinnerin zu sein – bevor jedes Land drei verschiedene Castingshows hatte, und es schwer wurde, unter den vielen Gewinnern herauszustechen. Und all die Probleme danach mit dem Vertrag: Das passiert so vielen Künstlern, egal ob sie dich in einem Club oder im Internet entdecken. Meine Story ist kein Einzelfall. Ich bin nur die Einzige, die darüber redet. Und meine Story ist auch keine Opferstory. Drei Mal hätte ich zwar deshalb beinahe aufgehört. Aber es war meine Entscheidung. Ich habe mich ganz bewusst selbst entschieden, weiterzumachen, weil ich das Singen so sehr liebe."