Kultur

Keine Angst vor etwas Schmalz im Wasser

Von den amerikanischen Schriftstellern, die beim Schreibens unentwegt Köder auswerfen, ist Anthony Doerr einer der besten.

Durch diesen Roman – er war Doerrs Debüt 2004 – ließ er Wasser fließen, und auch wenn man weiß: 2 Wasserstoffatome verbinden sich mit 1 Sauerstoffatom immer im Winkel von 104,5 Grad. Wasser bleibt trotzdem unberechenbar.

Winkler ist Hydrologe in Alaska mit Spezialgebiet Eiskristalle. Ein lieber, kurzsichtiger Mann. Mit 34 findet er die Liebe und wird Papa.

Unangenehm ist (auch für ihn): In Träumen kann er in die Zukunft blicken.

Weit, weit weg

Kann sein, dass er dann bloß sieht, wie jemand eine Zeitschrift fallen lassen wird. Oder aber jemand wird vom Bus überrollt.

Winkler träumt eines Nachts, dass der nahe Fluss über die Ufer tritt. Er sieht sich mit seinem Baby. Er hält die ertrunkene Grace im Arm ...

Weg will er schnell mit Frau und Kind. Man hält ihn für verrückt. Es regnet doch nur leicht!

Also rennt Winkler allein weg. Weit, weit weg.

Er denkt: Ist er nicht da, wenn es zur Überschwemmung kommt, dann kann seine Tochter ja nicht tot in seinen Armen liegen.

Auf einer Karibikinsel jobbt er als Gärtner. Briefe an seine Frau bleiben unbeantwortet. 25 Jahre.

Nach 25 Jahren sucht der jetzt 59-Jährige seine Familie. Er weiß nicht, ob Grace damals gestorben ist.

Ist das nicht ein guter Stoff? Zu ausgewalzt wurde er. Aber sonst ... Doerrs Sprache ist rund wie Kieselsteine, die der Fluss geformt hat. Wenn wir traurig sind, dann wissen wir zwar genau, dass wir nicht traurig sein müssen – weil’s nur der Doerr erfunden hat. Aber wir sind es.

Doerr hatte schon in "Alles Licht, das wir nicht sehen" keine Angst vor etwas Schmalz. Mit der Geschichte vom blinden französischen Mädchen und einigen sonnigen Momenten im Zweiten Weltkrieg gewann er 2015 den Pulitzer-Preis. "Winklers Traum vom Wasser", vor zehn Jahren im deutschsprachigen Raum ignoriert, begeistert nun im zweiten Anlauf.

Der Leserfang funktionierte schon mit diesem ersten Roman. Spitzere Kieselsteine tun eh nur weh.


Anthony Doerr:
„Winklers Traum vom Wasser“
Übersetzt von Judith Schwaab. Verlag C.H.Beck. 488 Seiten. 20,60 Euro.

KURIER-Wertung: ****