Kultur

Karl-Markus Gauß: Das Herrliche ist der Alltag

Er könnte über umgefallene Streichholzschachteln schreiben, und es wäre bereichernd. Tut er nicht.

Aber über Armin Wolf macht er Notizen. Und über Fernseh-"Tatorte". Über Griechenland, die Heilige Inquisition und Twitter, über Améry und Valéry, Georg Kreisler, Sait Faik, über ein Hamburger Hotel-WC, ein Istanbuler Café ... DAS will man lesen, und zwar genau SO will man es lesen. Hier versucht jemand, schreibend der Welt beizukommen.

Hier flüchtet jemand mitten in die Welt, um sich vor ihr in Sicherheit zu bringen.

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Der Salzburger Essayist Karl-Markus Gauß legt ein neues Journal vor: "Der Alltag der Welt" handelt von den vergangenen zwei Jahren – aber von allem, was er gehört, gesehen, erlebt hat, was ihn ärgert, ändert, in ihm arbeitet.

Die Höchstwertung ist beredt genug. Freuen wir uns, dass der 61-Jährige jetzt im KURIER laut nachdenkt (danach ist man sicher, dass man sein Buch kauft).

Die größte Freude?

"Ich habe in den zwei Jahren einige Freunde sterben gesehen, was keine Freude war, sondern ein fortwirkender Schmerz ist. Aber sie haben mich an etwas erinnert, was ich ohnedies wusste, jedoch immer wieder zu vergessen drohte: Das Schönste sind die gewöhnlichen Tage, nicht die sensationellen oder spektakulären, das Herrliche ist der Alltag, nicht der besondere Festtag oder das außerordentliche Ereignis im Urlaub, die vermeintlichen Erfolgserlebnisse ...

Ein Glück ist es, alle Tage ohne viel Aufsehen zu tun, was zu tun ist, mit den mir Nächsten zusammen zu sein, mit Freunden manchmal unvernünftig viel Wein zu trinken und mich an liederlichen Reden zu erfreuen, und Glück ist es, jeden Tag ein paar Stunden völlig ungestört für mich am Schreibtisch zu verbringen.

Ich preise die verachteten Wonnen des Gewöhnlichen, die kleinen Freuden und Genüsse, von denen ich weiß, dass es am Ende die wahren und großen gewesen sein werden. Es ist meine Lieblingsbeschäftigung, alle Tage zu versuchen, ein für mich richtiges Leben in Zeiten zu führen, die mich in so vielem empören. "

Die schlimmste Enttäuschung?

"Die ist kein singuläres verheerendes Ereignis gewesen, sondern das wachsende Gefühl, mit fast allem, wofür ich politisch, sozial, literarisch eingestanden bin, gescheitert zu sein. Ich habe mein halbes berufliches und geistiges Leben dafür aufgewendet, meine Vorstellung von einem Europa, das sich durch kulturelle Vielfalt und soziale Gleichheit auszeichnen könnte, ja, unter die Leute zu bringen. Daraus droht eine unsagbar ordinäre kulturindustrielle Einfalt und krasse soziale Ungleichheit zu werden. Mich quält, dass in Europa und mit Europa und unter Aufwendung sämtlicher europäischer Phrasen gerade das zerstört oder verspielt wird, was mein Europa hätte sein können."

Die schönste Entdeckung?

"Dass es mich immer weniger beeindruckt, auf Idioten zu treffen, die mich in ihrer Uneinsichtigkeit nicht lieben. Das hübsch langsam hereinbrechende Alter beschert mir damit eine Freiheit, von der ich vorher gar nicht wusste, wie sehr sie mir abging."

Auf die Frage nach dem Buch, das ihn rettete, erfährt man:Die eigenen Bücher haben Gauß gerettet – "das spricht für die Literatur, denn so leicht war ich gar nicht zu retten."