Kultur

Julya Rabinowich: "Es geht nun um das Verhindern“

Heute, Freitag, gibt es anlässlich 75 Jahre Kriegsende wieder das „Fest der Freude“. Die Feier kann heuer jedoch nicht am Heldenplatz stattfinden. Stattdessen gibt es die Veranstaltung im Livestream auf www.festderfreude.at und in der Live-Übertragung des ORF zu sehen. Autorin Julya Rabinowich ist mit folgendem Beitrag Teil des virtuellen Fests.

Zuerst das Gefühl der Freude, des Dankes und der Demut – dafür, dass die Hölle auf Erden, mitten im Herzen Europas, vorbei ist.

Dafür, dass Österreich jetzt ein anderes Österreich ist als damals.

Dann aber folgt das Nachhaken. Ja, Österreich ist ein anderes geworden. Wir wissen, wie es dazu kam, dass Menschen wie Vieh in Waggons ihrer Ermordung entgegengekarrt wurden, wir wissen, wie man sie erst ihrer Rechte, dann ihrer Menschlichkeit beraubte: Es ging Schritt für Schritt, mit kleinen Pausen dazwischen, damit man sich daran gewöhnen konnte. „Niemals vergessen“ ist ein beliebter Spruch. Aber eine nicht halb so gerne gesetzte Handlung. Das, was schrecklicher Abgrund war, ist also überwunden, wenn auch noch immer nicht verarbeitet worden.

Ja, wir wissen das, wir haben viel dazu gelesen, gesehen, gehört. Und dennoch schleicht es sich wieder ein, dieses Schrittchen für Schrittchen, das die Grenzen verschiebt und die Wahrnehmung, bis man sich an im Wasser treibende Kinderkörper an den europäischen Küsten gewöhnt. Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen. Es geht nicht ohne hässliche Bilder. Es ging nicht ohne hässliche Bilder.

75 Jahre Kriegsende
Das „Fest der Freude“ anlässlich des Kriegsendes vor 75 Jahren findet heute aufgrund der Corona-Krise virtuell statt.

Das Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) veranstaltet die Feier am 8. Mai zum achten Mal. Highlight wird diesmal die Rede der Zeitzeugin Erika Kosnar sein. Auch die Wiener Symphoniker werden mit einem Beitrag vertreten sein. Katharina Stemberger moderiert.  

Livestream und im ORF
Zu sehen ist das Fest live unter www.festderfreude.at sowie auf  ORF III ab 18.05 Uhr.

Der Stacheldraht sprießt also wieder durch Europa, neue Triebe einer alten, allzu alten Welt. Europa trug auch in der Vergangenheit das Stacheldrahtkleid. Menschen, die daran gehindert wurden, ihre Heimat zu verlassen, starben, in Verstecken aufgestöbert, entmenscht, ausgezehrt, gespannte Haut über den Knochen. Kinder, die in Leichenbergen spielten und in ihnen Schutz vor der Witterung suchten. Das ist unsere europäische Vergangenheit. Nie wieder, hat man damals gesagt, und heute blickt man dennoch in die wiedergeborenen, allerdings noch vorläufig schaumgebremst entgleisenden Fratzen dieses Entmenschlichens. Das Eis der Zivilisation ist dünn, zu dünn, um darauf Probebohrungen politischer Natur zu veranstalten. Das Eis ist dünn, und sein Knacken ist recht deutlich zu vernehmen in Tagen wie diesen.

Was wir brauchen in diesen Tagen: Verbundenheit. Empathie. Wir brauchen Handschlagqualität und keine Fähnchen im Umfragenwind. Menschen, die einstehen und keine Lippenbekenntnisse ablegen. Wir brauchen keine Privatmeinungen zu jenen Kindern, die jetzt in den griechischen Lagern unter erbärmlichen Zuständen vegetieren – sondern Handlungen, die den sogenannten Werten Europas entsprechen. Diese viel beschworenen europäischen Werte – was genau soll das sein? Die Anbetung der Vergangenheit unter Ausblendung ihrer Verbrechen? Oder doch das Besinnen auf das, was Menschen zu Menschen macht: Mitgefühl und Verantwortung? Das Besinnen auf das, was Europäer und Europäerinnen zu Europäern und Europäerinnen macht: die Aufklärung und der Humanismus?

Ich sehe aus meinem Fenster und ich sehe die Stolpersteine, die die Namen der nach 1938 ermordeten Juden benennen, bronzene Erinnerungsinstanzen vor den Hauseingängen betroffener Immobilien. Im Nebenhaus hat jemand ein Hakenkreuz in den Staub des Fensterglases gezeichnet. Das, was wir überwunden glaubten, ist zurück. Noch ist es unstet, verwischt, hat sich nicht vollends materialisiert und der Schlaf unserer Vernunft liegt noch in den Wehen. Es geht nicht mehr um das Vergessen. Es geht nun um das Verhindern.