Julian Barnes: Wo ist die Wahrheit?
Von Peter Pisa
Es ist zu hoffen, dass diese Seite auch von einigen Künstlern gelesen wird.
Von Lesekünstlern.
"Lesen", schreibt Julian Barnes, "ist eine Fähigkeit, die viele haben, aber eine Kunst, die nur wenige beherrschen."
Der Engländer wird am 19. Jänner 70 Jahre alt. Sein neuer Roman, "The Noise of Time", erscheint dieser Tage leider erst in Großbritannien. (Im Mai 1937 steht ein Mann vor einem Leningrader Wohnblock und wartet die ganze Nacht und ist darauf gefasst, weggeschafft zu werden ...)
Aber für den deutschen Sprachraum muss es jetzt auch etwas vom Booker-Preisträger geben – also "Am Fenster".
Symbiose
Der Titel klingt seltsam, weil es in allen Essays um Bücher geht, um Geschichten, und wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man wahrscheinlich kein bedrucktes Papier, sondern das Leben.
Aber das Lesen und das Leben sollen ja eine Symbiose eingehen und nicht gegensätzlich zueinander stehen.
Zitat Julian Barnes: "Romane erzählen uns die reinste Wahrheit über das Leben: was es ist, wie wir es leben, wozu es da sein könnte ... wie es misslingt und wie wir es verlieren."
Demnach gewähren Romane einen Blick aus dem Fenster; und wenn uns Barnes etwas über englische, amerikanische und französische Schriftsteller erzählt, die ihm etwas bedeuten, wo will man mitunter gleich zu ihnen hinaus springen: Updike, Houellebecq und Kipling, Penelope Fitzgerald, Arthur Hugh Clough und Ford Madox Ford ...
Der Büchersammler Barnes kümmert sich in seinen Literaturstunden auch um weniger bekannte Namen und macht Lust, Romane kennenzulernen. Und manchmal wird man Lust auf ein Wiedersehen bekommen.
Mit der "Rabbit"–Reihe zum Beispiel, von Georg Danzer gewissermaßen zusammengefasst in dem Lied "Des kaun do no ned ollas gewesen sein". Große Lust.
Und man wird nicht wollen, dass die vier Bücher zu Ende gehen, weil man nicht will, dass der so schrecklich gewöhnliche Rabbit (zuletzt Toyota-Händler) stirbt – obwohl er seinen Sohn anschreit: "Es ist nicht so schlimm!"
Julian Barnes: „Am Fenster“
Übersetzt von Gertraude Krueger, Thomas Bodmer, Alexander Brock, Peter Kleinhempel.
Kiepenheuer & Witsch Verlag.
352 Seiten.
22,70 Euro.