Kultur

Das Leben ist ein langer Sturz

Auf Seite 23 von „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ steht:

„Es ist alles nur Schein.“

Stimmt freilich. Ist ja immer so. Macht aber in dem Fall gar nichts. Über diesen Schein, über diese Lügen ist man nicht böse, der Roman – die Sensation in Frankreich voriges Jahr, 750.000 Exemplare sind schon weg – ist beste Unterhaltung.

Die deutsche Übersetzung startete mit 100.000 Auflage. Die Nachfolge von „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg“ vom Schweden Jonas Jonasson (hat sich aus den Bestsellerlisten seit zwei Jahren nicht verabschiedet) könnte sich abzeichnen.

Allerdings: Der 27-jährige Autor Joël Dicker aus Genf lässt keinen Elefanten mitspielen; und nicht die Atombombe; und es gibt auch keinen lieben, alten Helden, dem man die Daumen drückt, dass seine Flucht aus dem Heim gelingen möge.

Weshalb also liest man derart gierig? Warum legt man das Buch trotzdem erst nach mehr als 700 Seiten aus der Hand, ungern noch dazu?

Es ist ein Kasten. Öffnet man ihn, fällt zuerst der Krimi heraus. Denn in einem kleinen, frustrierten Ort an der Ostküste wird im Garten des berühmtesten amerikanischen Schriftstellers namens Harry Quebert das Skelett der 15-jährigen Nora gefunden. Beim Orchideen-Pflanzen.

Das Mädchen war vor 35 Jahren verschwunden.

Kein Trick

Quebert, er geht auf die 65 zu, wird verhaftet und unter Mordanklage gestellt. Er gesteht nicht. Aber er muss zugeben, mit Nola ein Verhältnis gehabt zu haben. Amerika ist entsetzt, jetzt vielleicht sogar noch entsetzter:

ein Kinderschänder!

Queberts ehemaliger Schüler, mittlerweile selbst ein aufstrebender Schriftsteller, setzt alles in Bewegung, um den wahren Mörder zu finden.

Und dann fällt die Liebesgeschichte aus dem Kasten; inklusive Sittenbild. Und es scheint, dass die Liebe doch kein Trick ist, den sich Männer ausgedacht haben, damit sie ihre Wäsche nicht selbst waschen müssen.

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Und eine Lektion über das Fallen ist im Kasten verborgen: Das Leben ist ein langer Sturz, „das Wichtigste ist, fallen zu können“ (weiß die Hauptfigur).

Plus eine Lektion, wie man ein Buch schreibt. „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ zum Beispiel.

Es ist ein amerikanischer Roman geworden. Joël Dicker – ein studierter Jurist, der zunächst Geld verdient hatte, indem er für die Abgeordneten im Genfer Parlament Sandwiches zubereitete – wollte sich an Thrillern aus den USA messen.

Er beherzigte: Ein Buch muss sein wie – Boxen. Am besten, jedes einzelne Kapitel bearbeitet den Bauch der Leser. Bis die Luft wegbleibt. Joël Dicker ist eindeutiger Sieger.

KURIER-Wertung: **** von *****

INFO: Joël Dicker: „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ Übersetzt vonCarinaEnzenberg. Piper Verlag. 736 Seiten. 23,70 Euro.