In der Geisterbahn der NS-Ideologie
Das Ewiggestrige wirft lange Schatten. "Viereinhalb Jahre gegen Lüge, Feigheit und Dummheit" war der ur-sprünglich vorgesehene Buch- titel. Daraus wurde: "Mein Kampf". Einst Standard zwischen Bibel und Kochbuch in deutschen Haushalten.
Wofür in der Erstausgabe von 1925 heute Sammler rund 900 Euro zahlen, war 1945 in Passau Klopapier für Wochen. 90 Jahre nach Erscheinen sorgt Adolf Hitlers Hetzschrift noch immer für Diskussionen. Ende 2015 erlischt das Urheberrecht.
Soll der Hirnvernebelungsschwulst eines Mannes, der die Welt zerstörte, 2016 wieder verkauft werden dürfen? Oder wäre es sinnvoller, "Mein Kampf" weiter unter Verschluss zu halten?
Rimini Protokoll zeigt beim Festival steirischer herbst im Grazer Schauspielhaus zunächst nur die Rückseite eines riesigen Bücherregals, als wäre "Mein Kampf" die "Arschseite" von Karl Marx und "Das Kapital".
Perspektiven
Geschichtspolitisch brisant ist das Machwerk allemal. Das Berliner Theaterkollektiv hat in Graz in nur einer Stunde sogar eine "Jubiläumsausgabe" zum 50. Geburtstag des Führers mit Goldschrift und Prägedruck um 280 Euro aufgestöbert.
In der Geisterbahnfahrt durch die NS-Ideologie des Regieduos Helgard Haug und Daniel Wetzel erzählen sechs Laiendarsteller, welche Rolle das "Buch der Deutschen" in ihrem Leben gespielt hat: Für einen Weimarer Bücherrestaurator ist es ein "Stammtischerguss".
Sibylla Flügge schenkte als 15-Jährige ein selbst geschriebenes "Best of" ihrer Mutter zu Weihnachten. Für sie, deren Schwester RAF-Terroristin wurde, ist es heute "immer wieder eine Herausforderung, die alte Scheiße in die Hand zu nehmen".
Alon aus Israel provoziert gern. Einst den Rabbiner mit dem Hitler-Gruß. Er schätzt die Fibel des klassischen Demagogen, der Richtiges mit Falschem oder Halbwahrem vermischt, als "das beste Buch, um den Antisemitismus darzulegen".
Die junge Anwältin Anna erklärt juristischen Aspekte wie Verbotsgesetz, Verhetzung und Wiederbetätigung.
Der blinde Musikliebhaber Christian gibt aus einer Braille-Ausgabe Stilblüten zum Besten. Und der deutsch-türkische Rapper Volkan hat "Mein Kampf" als Manga- Comic gelesen und seine eigene Situation darin erkannt.
Was allzu leicht akademisch trocken oder peinlich sein könnte, hat Spannung, die über zwei Stunden anhält.
Und Staunen, Kopfschütteln aber auch Schmunzeln provoziert. Mit kabarettistischer Anmutung, wenn die Darsteller nach zufällig ausgewählten Buchstaben assoziieren. Oder beim "Ja oder nein"-Spiel fragen: "Würden Sie im Café ,Mein Kampf‘ auf den Tisch legen?"
"Das Volk wählt seine alten Betrüger", wird Hitler zitiert. Und das hört sich – mit Hypo Alpe Adria im Hirn – dann doch beklemmend vertraut an.
Haben Sie kürzlich mal einen Computer entsorgt und vorher brav die Daten gelöscht?
Dann haben Sie Pech gehabt. Denn wenn Sie nicht ganz besonders sorgfältig waren und Spezialsoftware verwendet haben, war das umsonst. Ihre Daten auf dem Computer lassen sich nämlich recht leicht wiederherstellen. Und, wenn man nur kurz drüber nachdenkt, können die ganz schön intim sein: Bankverbindungen, vermeintlich private eMails, besuchte Webseiten.
Wer Pech hat, dessen Computer gerät in die Hände eines Bösewichts, der mit den Daten allerlei Unfug anstellt. Wer (relativ gesehen) Glück hat, wird Teil eines Kunstprojekts beim steirischen herbst in Graz. Im Medienkunstlabor nämlich steht eine Metallbox, die Daten von vermeintlich gelöschten Festplatten wiederherstellt. Das Gute daran: Mit diesen Daten wird kein Schindluder getrieben, sie werden einfach wieder gelöscht.
Schwierige Echos
Das Projekt macht – wie die gesamte Schau "What Remains" – bewusst, wie leicht man ungewollt (Daten-)Spuren hinterlässt. Und wie schwer es ist, seinen digitalen Fußabdruck zu verwischen.
Damit klinkt sich die Schau in ein wiederkehrendes Thema der Ausstellungen im Rahmen des steirischen herbsts (noch bis 18. 10.) ein: Hinterlassenschaften aller Art, mit denen umzugehen schwierig ist, und Echos von Bildern, die einst prägend waren und heute zunehmend verblassen.
Wie sich etwa die Bildsprache des christlich-europäischen Erbes in zeitgenössische Kunst übersetzt, zeigt "Reliqte, Reloaded" im Kulturzentrum bei den Minoriten: Tätowierte Hardrocker zum Beispiel, die sich, in Flammen stehend, zum letzten Abendmahl begeben. Oder ein sich als Ventilatoraufsatz unter der Decke drehendes schwarzes Kreuz.
Auch die herbst-Ausstellung im Festivalzentrum kreist um die Bezeichnung eines schwierigen Erbes: Um jene Warnzeichen nämlich, die Menschen noch in 10.000 Jahren vor radioaktiven Abfällen im Erdboden warnen sollen. Die müssen so kultur- und zeitenüberschreitend sein, dass sie auch künftige Zivilisationen verstehen. Die "Hall Of Half Life" genannte Schau entwickelt eine "Archäologie der Zukunft" – auf den Ruinen dessen, was unser heutiges Leben ausmacht.