In den Memoiren fehlt etwas: die Kulturrevolution
Von Peter Pisa
Mo Yan hatte einen Lehrer mit einem sehr breiten Mund, weshalb man ihn Kröte nannte oder Flusspferd. Dieser Mund stand immer offen, besonders weit stand er offen, wenn der Lehrer mit der hübschesten Schülerin Tischtennis spielte. Bis ihm das Mädchen den Ball in den Mund pfefferte. Und er hat geschluckt. Fast wäre er erstickt.
In dem eben auf Deutsch erschienenen schmalen Buch "Wie das Blatt sich wendet" erzählt Bauernsohn Mo Yan – Jahrgang 1956 – Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend in China. Memoiren.
Man muss nicht extra betonen, dass er das wunderbar kann. Der Mann hat immerhin 2012 den Literatur-Nobelpreis bekommen. Was bei diesem Thema unangenehm auffallen muss, ist das Ungeschriebene über die Zeit unter Mao. Mo Yan entschuldigt sich im Vorwort gleichsam dafür: Es sei unmöglich gewesen, "nur das, was ich wollte", und "nur so, wie ich es wollte", festzuhalten.
Nur ein Wort
Die Kulturrevolution 1966 bis 1976 wird in China totgeschwiegen. Also kann Mo Yan, Vizevorsitzender der offiziellen chinesischen Schriftstellervereinigung, schwer darüber erzählen. Zumal er auch noch 2002 zu Ehren Maos einen Teil dessen Rede zur Literatur mit der Hand abgeschrieben hatte, für einen "Jubiläumsband"... Wenn Mo Yan in "Wie das Blatt sich wendet" das Wort "Rechtsabweichler" notiert, dann bleibt es nur bei dem Wort. Keine Rede davon, dass mehr als 500.000 Intellektuelle zur "Umerziehung" in Lager bzw. aufs Land geschickt wurden.
Mo Yan verwendet die Bezeichnung nur, um zu sagen: Es war ein "Rechtsabweichler", Uniabsolvent im Fach Medizin, der dem großmäuligen Lehrer den Pingpongball aus dem Hals geholt hatte. Und verwendet er das Wort "Studentenunruhen" (die 1989 zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens geführt haben), dann nur, um uns mitzuteilen: Er habe bei seinem Masterstudium im Fach Literatur den Kopf nicht frei gehabt und deshalb zu dieser Zeit wenig Englisch gelernt.
Der Traum
Stattdessen erzählt er ausführlich über seinen Rausschmiss aus der Schule, über seine Angst, als Fabriksarbeiter zu enden, über die Zeit bei der Armee, über den Traum, Lastwagenfahrer zu werden ... und wie er sein Leben dann doch der Literatur widmete. Die Memoiren erschienen in Indien und England schon in den Jahren vor der Nobelpreis-Vergabe durch die Schwedische Akademie. In Indien hatte ein Verlag sie als politischen Essay über die Veränderungen des chinesischen Kommunismus in Auftrag gegeben. Mo Yan wollte schon absagen – und erledigte den Text dann in seiner poetischen Weise. Damit fesselt er; und ist selbst gefesselt.
KURIER-Wertung: