Kultur

Im düsteren Blätterwald

Ein Künstler wollte er nie sein, und vielleicht gab es dafür rein praktische Gründe: Vermutlich wäre es dem herausragenden französischen Dichter Victor Hugo (1802– 1885) schlicht zu mühsam geworden, sich neben seinen literarischen und politischen Tätigkeiten auch noch mit den Konventionen des Kunstbetriebs im Paris des 19. Jahrhunderts anzulegen.

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Die mehr als 3500 bildnerischen Arbeiten auf Papier, die Hugo im Lauf seines Lebens schuf, sind daher bis heute eine Art Geheimtipp, wenngleich sie keineswegs unbemerkt blieben: Sowohl Surrealisten wie André Breton und Max Ernst, als auch spätere Enthusiasten wie Arnulf Rainer und Günter Brus erkannten in Hugos Bild-Erfindungen einen Vorläufer der eigenen Bemühungen, Neuland zu erobern. Lange vor ihnen nutzte der Literat nämlich bereits Tintenkleckse, Abklatsche und Abdrucke, um ins bildnerische Unbewusste vorzudringen.

Ein Kind seiner Zeit

Die in einem Saal konzentrierte, höchst sehenswerte Ausstellung des Leopold Museums – die erste Werkschau von Hugos Bildern in Österreich – warnt dennoch davor, den Schriftsteller reflexartig als "Vorläufer der Moderne" zu vereinnahmen. Wie der Kunsthistoriker Raphael Rosenberg im Katalog ausführt, stand Hugo nicht im Widerspruch zu den Gepflogenheiten seiner Zeit.

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So ist etwa die Idealisierung von gotischen Bauwerken, die Hugo in manchen fein ziselierten Tuschezeichnungen durchexerzierte, ein typisches Thema der Romantik. Bei wuchtigen, teils schon abstrakten Wolken- und Stimmungsbildern brachten es auch Künstler wie J.M. W. Turner (1775–1851) zur Perfektion; Anstöße lieferten unter anderem Rembrandts Druckgrafiken, die um 1850 hoch im Kurs standen.

Auch beim Experimentieren mit Klecks- und Zufallsbildern und bei der Darstellung von düsteren Traum-Szenarien war Hugo nicht allein. Die technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts, allen voran die Fotografie und verwandte Techniken wie der "Naturselbstdruck", befanden sich damals in enger Nachbarschaft zu esoterischem Gedankengut und dienten als Werkzeuge, um "Geisterhaftes" ins Bild zu bannen.

Abdrücke von Spitzenbordüren, die Hugo zu "Geistergesichtern" ergänzte, lassen hier an jene Fotos denken, mit denen später auch ein anderer Literat – "Sherlock Holmes"-Erfinder Arthur Conan Doyle – versuchte, spukhafte Atemwolken von Menschen, das so genannte "Ektoplasma", zu fotografieren.

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Die von Kurator Ivan Ristić gestaltete Ausstellung macht die Gemengelage aus romantischer Nostalgie und modernem Aufbruch nachvollziehbar. Die Blätter veranschaulichen Hugos Epoche und wirken dennoch enorm gegenwärtig, da sie durch ihre Spontaneität und Vieldeutigkeit unweigerlich zum Ergänzen und Weiterdenken anregen. Oft wirkte es, als hätte Hugo dort weiter gemalt und gezeichnet, wo ihm die Worte gerade nicht ausreichten: "Er hat Bilder geschrieben und Texte gemalt", formuliert es Ristić.

Kaum Aussicht auf Ehre

Die grotesken Papierzeichnungen waren zu Hugos Zeiten jedoch allenfalls als Spielereien akzeptiert. Dass der Dichter selbst so kontinuierlich an ihrer Anfertigung festhielt, spricht dafür, dass das bildnerische Werk für sein Schaffen viel größere Bedeutung besaß. Für das Publikum heute öffnet sich die Gelegenheit, den großen Literaten doch noch als "Gesamtkunstwerker" zu betrachten.

INFO

Die Ausstellung „Victor Hugo – der schwarze Romantiker“ zeigt bis 15. 1. 2018 rund 60 Werke – neben Grafiken und Aquarellen Hugos auch Fotos und Bilder seiner Zeitgenossen. Der Katalog kostet 24,90 €. Das Bruseum der Neuen Galerie Graz zeigt bis 14. 1. in der Schau „Nach der Dämmerung“ Parallelen von Victor Hugo und Günter Brus. Beide Künstler verbinden ähnliche Themen, beide wechseln in ihrer Arbeit zwischen Bildern und Texten – und beide wurden wegen politischer Aufmüpfigkeit ins Exil gedrängt. www.bruseum.at