Hochwürden Weidinger hielt sich nicht ans Beichtgeheimnis
Von Peter Pisa
Mutter erzählte viel über die Zeit, als sie im Dorf mit zwei Dutzend Höfen, zwei Wirtshäusern, einer Schmiede, einer Kapelle, einem Feuerwehrhaus aufwuchs: im kargen oberösterreichischen Mühlviertel nahe der tschechischen Grenze.
Sie erzählte kurz, prägnant – nicht so wie der Vater, der mehr ausgeholt und erklärt hat.
Wenn Schriftsteller Erich Hackl in „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ die Stimme der verstorbenen Maria wiedergibt, klingt es wie ein 100 Seiten langes Gedicht:
„ Hochwürden Weidinger hielt sich
nicht an das Beichtgeheimnis.
Von der Kanzel herunter verlas er
die Namen der Mädchen,
die es gewagt hatten,
ohne das Heilige Sakrament der Ehe
schwanger zu werden ...“
Man sieht, vor dieser Komposition braucht sich keiner zu fürchten (und sie wirkt nachhaltig, wie man so sagt). Vorm Weidinger schon gar nicht. Der ist tot, wie der Mordsnazi Wagner, der den kaisertreuen Briefträger verpfiffen hat, als der „Gleich kommt der Otto, der Otto kommt, der Otto!“ gesungen hat.
Trotzdem Freude
Solche Geschichten gehören der Mutter. Es sind die Erfahrungen der Tochter eines verschuldeten Bauern und Holzhändlers – der nah dran war, sich im Wald aufzuhängen.
Es sind ihre ersten 25 Jahren (plus Reise nach Wien, wo sie lernte, nicht jeden auf der Straße zu grüßen).
Sie erzählt zu unserem Gewinn, ganz abgesehen von der Poesie, die man dabei einatmet, weil halt Sohn Erich Hackl als Chronist ein Dichter ist.
Es prügeln die Lehrer, es verbrennen die Häuser, es krepieren die Menschen ... und trotzdem war Platz damals für Freude.
Freude über eine Schaumrolle; Freude über das Petroleumlicht in der Stube und den Schnee vor dem Fenster; Freude, wenn zum Tanz aufgespielt wurde.
Austrofaschismus, Weltkrieg, Rote Armee – stets war Maria Hackl im Kampf mit ihren eigenen Vorurteilen. Oft hat sie gewonnen.
Die „Zigeuner“: Wenn sie sangen, war das eine Wonne. Dass niemand fragte, wo sie eines Tages geblieben sind, das war „unsere Schuld“.
Die russischen Soldaten: Es gab auch einen, der sich aufs Hausbankerl setzte, in die Sonne blinzelte – „Ach, jetzt sind wir im schönen Österreich ...“
Erich Hackl griff auf Interviews mit seiner Mutter zurück. Eingegriffen hat er im Text, wenn sie ihre Einsichten nicht ausdrücken konnte.
Sein ganzes Werk – etwa „Abschied von Sidonie“ über das Roma-Mädchen Sidonie Adlersburg, das sich die Haut „weiß machen“ wollte und in Auschwitz umgebracht wurde – besteht aus Denkmälern.
Man kann sie nach Hause nehmen. Man sollte.
KURIER-Wertung:
INFO: ErichHackl: „Dieses Buchgehört meinerMutter“DiogenesVerlag.112 Seiten.18,40 Euro.