Haus der Kindheit - Von Anna Mitgutsch
Anna Mitgutsch schreibt traurige Bücher. Stets behandelt sie schwere Themen und verwandelt sie in berührende Literatur: Ob Kindesmisshandlung im 1985 erschienenen Roman „Die Züchtigung“, ob die Auseinandersetzung mit Autismus in „Ausgrenzung“ von 1989 oder der Tod eines geliebten Menschen im 2010 veröffentlichten Buch „Wenn du wiederkommst“ – immer wieder legt die 1948 in Linz geborene Autorin ihre schreibenden Finger auf eine schmerzende Wunde. Dabei erschafft sie dramatische, spannende und sich flüssig lesende Geschichten, die aber nie in Kitsch abgleiten, sondern Leserinnen und Leser beherzt durch die Dunkelheit führen. All dies gilt auch für den im Jahr 2000 erschienenen Roman „Haus der Kindheit“, der sich mit der inneren Zerrissenheit der Holocaust-Nachgeborenen beschäftigt, aber auch mit dem Themenkomplex der Zwangsenteignung jüdischer Mitbürger im Nationalsozialismus und der Wiedergutmachung heute, kurz: mit der Restitution.
Erzählt wird in Form eines Entwicklungsromanes das Leben Max Bermans. Seine jüdischen Eltern emigrieren bereits 1928 nach Amerika, aber die Ehe zerbricht. Das führt in den sozialen Abstieg. Schließlich landet Max mit seiner Mutter und zwei Brüdern in der Bronx – an die einstmalige Großbürgerlichkeit erinnert nur noch die Schwarzweißfotografie ihres Hauses in H., einer Kleinstadt in Österreich. Das „Haus der Kindheit“ für Max. Während seine Mutter sich in New York nie einleben kann, arrangiert Max sich begeistert mit dem American Way of Life, wird rasch ein erfolgreicher Innenarchitekt, verdient gut und bald noch besser. Nur ein Stachel bleibt – das Haus ihrer Familie. Er schwört sich, seinen Lebensabend dort zu verbringen und wird jahrelang um die Rückgabe des Familieneigentums kämpfen müssen. Immer wieder kehrt Max nach H. zurück, lernt die schrumpfende jüdische Gemeinde kennen, aber auch eine Welt, in der Erinnertes sich mit Neuem und Fremdem vermischt.
In ihrem siebten Roman stellt die Autorin erstmals einen männlichen Protagonisten ins Zentrum der Handlung, und dabei gelingt ihr die glaubwürdige Beschreibung eines verletzten, teilweise gefühlskalten und sehr authentischen Charakters.
Anna Mitgutschs großes Verdienst ist es, das noch immer schwierige und heikle Thema Restitution so souverän wie differenziert zu betrachten. So ist Max Berman über weite Strecken des Buches kein sympathischer Mann. Und nicht jeder Sohn eines Nationalsozialisten ist unsympathisch oder schlicht böse. Ohne großen literarischen Schnickschnack, mit einer gradlinigen, fast spröden und doch eindringlichen Sprache beschreibt die Autorin ihren Helden über mehr als 70 Jahre. Ein spannendes, wichtiges Buch, zumal Wiedergutmachung und Aufarbeitung bis heute diskutiert werden und teilweise noch immer nicht vollzogen worden sind.
Anna Mitgutsch gelingt es auf faszinierende Weise, im Roman beide Realitäten – den großstädtischen Alltag von Immigranten in den Vereinigten Staaten und die eigensinnig-biedere Lebenswelt in Oberösterreich – fast beiläufig und selbstverständlich zu beschreiben. Sie kennt sich aus: Die Autorin lehrte als in Salzburg promovierte Literaturwissenschaftlerin von 1978-1985 in den USA, lebte ein Jahr lang in Israel und ist seit 1985 freie Autorin mit „Lebensschwerpunkten“, wie sie auf ihrer Homepage schreibt, in „ Linz und Boston“.
Die Stadt H., in der Max Bermans „Haus der Kindheit“ steht, meint mitnichten einen realen Ort, soll nicht auf Linz gemünzt sein, sondern Assoziationsmöglichkeiten bieten – von „Hitlerstadt“ bis zu „Heimat“.