Harry Styles solo: Rock, die 70er & gute Melodien
Alleine die Gitarre, die er in der Hand hält, sagt schon etwas darüber aus, wie sich Harry Styles als Solist sieht. Es ist Samstagabend, soeben hat seine Band die Bühne von "The Garage" – einem kleinen Rock-Club in Londons Stadtteil Highbury – betreten.
Jetzt kommt der 23-Jährige nach, erinnert mit einem rosa Glitzer-Sakko, dem schwarzen Hemd, dem fetten Harrschopf über der Stirn und der Jazz-Gitarre mit F-Löchern an Elvis in den frühen 60er-Jahren.
Zwar klingen weder der erste Song "Ever Since New York" noch irgend ein anderer an diesem Abend nach Elvis. Aber sie klingen alle nach ähnlichen großen Vorbildern, nach Fleetwood Mac oder den Rolling Stones, nach Rock und handgestrickter Musik – erwachsen und reif, fernab der polierten Pop-Songs, die Styles mit der in der Casting-Show "The X Factor" formierten Boyband One Direction sang.
Kurzsichtig
2015 schlug Stlyes seinen Band-Kumpels vor, eine Pause zu machen – nach fünf Alben in fünf Jahren, die sich 50 Millionen Mal verkauft haben. "Klar könnte man da denken: ,Lass uns weitermachen!’", erzählte er kürzlich dem Rolling Stone. "Aber das ist kurzsichtig. Denn wir waren erschöpft. Aber wir alle schätzten die Band zu sehr, um zuzulassen, dass sich das auf die Qualität auswirkt. Und ich wollte den Erfolg einfach nicht bis auf Letzte ausreizen und auch die Fans müde sind."
Eigentlich hieß es bei der Ankündigung der "Pause", dass One Direction 2017 wieder zusammen kommen. Doch stattdessen hat jetzt Styles sein selbstbetiteltes Solo-Album veröffentlicht.
"Jede Entscheidung, die ich bisher getroffen hatte, war in einer Demokratie entstanden", sagt er. "Es war Zeit, für mich selbst zu stehen. Ich wollte Songs schreiben und sie aufnehmen. Nicht ein Demo abgeben, das Produzenten bearbeiten. Und ich wollte dabei nicht eine Story erzählen, sondern meine."
Freitag sind diese Songs erschienen. Sie zeigen den britischen Sunny-Boy als reifen Songwriter mit einem Gespür für Melodien, die eingängig sind und trotzdem nicht abgenützt klingen. Das melancholische "From The Dining Table" und die Gitarrenballade "Sweet Creature" sind am Album wie auch beim Konzert in London Highlights.
Verzerrte Soli
Live geben Styles und seine Band außerdem stürmischen oder leicht bluesigen Rock-Nummern wie "Only Angel" und "Kiwi" mit verzerrten Gitarrensoli noch mehr Ecken und Kanten. Allerdings wird auch hier – genau wie auf dem Album – klar, dass sich der Brite bei den Arrangements ein bisschen zu sehr an den Sounds der Vorbilder orientiert und etwas zu wenig eigenen Charakter entwickelt hat.
Ein Highlight zum Schluss der Konzert-Premiere ist die Single "Sign Of The Times", eine Piano-Ballade, die im Titel eine Hommage an Prince ist. Es ist einer der wenigen Songs von "Harry Styles", die nicht von gescheiterten Beziehungen (unter anderen der mit Taylor Swift) handeln.
Hier geht Styles auf die bewegten Zeiten ein, das Jahr von Brexit und der Wahl von Donald Trump, in denen das Album entstand: "Was mir daran am meisten an die Nieren geht, ist nicht die Politik selbst", erzählte er dem Rolling Stone. "Es sind die gefährdeten Grundsätze: Gleiche Rechte für alle Rassen, alle Geschlechter – einfach für alle Menschen."
Mit "Stockholm Syndrome" hat Styles auch einen Song der Band in die Solo-Premiere eingebaut. Damit zeigt er vielleicht am deutlichsten, wo er sich als Solist positionieren will. Denn der One-Direction-Hit erklingt im Garage-Club als geradliniger Rocker – und fügt sich so bestens ins Programm.