Die Mumie in Zimmer Nummer 7
Von Peter Pisa
(Hypochonder werden beim Lesen des Romans den Ärztenotdienst anrufen. Schwer atmet man.)
Es begann mit Rückenschmerzen und mit einem Kribbeln in den Fingern, wie Ameisen unter der Haut.
Ein Arzt tippte auf Nierenkolik bzw. -steine.
Aber dann wurden die Pupillen weit und starr. Zwei Finger konnten nicht mehr bewegt werden.
Im Spital hieß es: "Gehen Sie nach Hause, Sie sind gestresst, das gibt sich."
Die Lähmung schritt weiter voran. Bis der damals 29-jährige Boris Razon – Chefredakteur der Online-Ausgabe von Le Monde – ein Stück Omelett aufspießte und mit der Gabel nicht mehr in den Mund traf.
Ein paar Zuckungen noch, und der Franzose konnte sich fortan nicht mehr bewegen. Nichts konnte er bewegen. Nicht schlucken, nicht ohne Maschine atmen.
Eine Mumie.
Ein Gegenstand mit Schläuchen in Nase, Mund. Fünf Wochen der Finsternis, danach wurde es wieder langsam heller, und Razons ebenfalls abgemagerte Familie stand am Bett in Zimmer Nummer sieben der Neurologischen Intensivstation des Pariser Nervenkrankenhauses Pitié-Salpêtrière.
In der Unterwelt
Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine seltene Nervenentzündung, die meist von einer Infektion ausgelöst wird. Sie könnte durch einen rohen Fisch begonnen haben.
Oder – darauf tippt Boris Razon – auf übel schmeckende, möglicherweise verdorbene Čevapčići, die er mit seinem Vater in Kroatien (trotzdem) gegessen hat.
Zehn Jahre ist alles her.
Mit großem Abstand schrieb der Journalist den Roman seiner Reise in die Unterwelt. "Palladium" kam unter die Nominierten für den Prix Goncourt.
Das Buch IST Razons Palladium – in der (von der Beschützerin und Bewahrerin Pallas Athene abgeleiteten) Bedeutung:
Es garantiert auf mehr als 200 Seiten, dass etwas erhalten bleibt … nämlich das Ringen zwischen Leben und Tod, bei dem der Autor mit geschlossenen Augen zugeschaut hat.
Drei Teile hat der Roman. Für Nägelbeisser und Beckenrandschwimmer (also für sehr viele) ist vor allem Teil eins interessant, in dem es um die Verwandlung in die Mumie geht.
Der zweite, literarisch bemerkenswertere, der wahrscheinlich quergelesen wird, gibt die Halluzinationen wieder. Boris Razon ist Vogelmensch, ist Gemüsemensch, ist Mörder, er geht am Grund eines Sees spazieren, er wird herausgefischt, man verlangt Lösegeld …
Teil drei ist die neuerliche Menschwerdung.
Unterbrochen wird immer mit Sätzen aus der Original-Krankengeschichte.
Im Anhang werden medizinische Begriffe erklärt, spätestens bei Z wie Zytomegalievirus (Virus, das über alle Körpersekrete übertragen werden kann) merkt man wieder einmal. dass der Totenfluss Styx nah ist wie der Donaukanal.
KURIER-Wertung: