Glotzaugen, Rotzlecker, Leisetreter
Von Thomas Trenkler
Die "Publikumsbeschimpfung", das erste Stück von Peter Handke, war eine Herausforderung, auch eine Zumutung. Denn vier "Sprecher" heißen ihre Zuhörer alles Mögliche: Hurrapatrioten, Glotzaugen, Milchgesichter, Schrumpfgermanen, Gernegroß, Hinterwäldler, Windbeutel, Saujuden, Rotzlecker, Untermenschen, Nullen, Stichwortbringer, Leisetreter, KZ-Banditen, Schießbudenfiguren und so weiter.
Die Beschimpfung des Publikums macht aber nur einen Bruchteil des Textes aus: Sie ist das furiose Finale. In den Passagen davor zerstört Handke die Konventionen des bürgerlichen Theaters, er zerstört alle Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen. Die Sprecher "dekonstruieren", wenn man so will, das Ritual. Und immerzu wenden sie sich direkt an die Zuhörer: "Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden." Man könnte sagen, dass Handke das erste postdramatische Stück schrieb – zu einer Zeit, als es diesen Begriff noch gar nicht gab.
Im März 1966 erschien beim Suhrkamp Verlag Handkes Debütroman, "Die Hornissen". Und einen Monat später veröffentlichte die Grazer Literaturzeitschrift "manuskripte", die bereits 1964 Auszüge aus den "Hornissen" gebracht hatte, die "Publikumsbeschimpfung".
Peymanns wilde Bande
Die Uraufführung fand am 8. Juni 1966, also vor genau einem halben Jahrhundert, statt – im Rahmen der "Experimenta 1", einer Veranstaltungsreihe analog zur "Documenta", die das Frankfurter Theater am Turm (TAT) für seine Talente ins Leben gerufen hatte. Und in einer Inszenierung von Claus Peymann, der am Tag zuvor seinen 29. Geburtstag gefeiert hatte.
Im Gespräch mit dem KURIER erzählt er, wie es dazu kam: "Niemand wollte dieses Stück inszenieren. Der Suhrkamp Verlag hatte es herumgereicht. Dann bekam ich es in die Hand. Ich war am TAT, ich habe es gelesen und wusste: Das mach ich sofort. Schauspieler, die heute berühmt sind, weigerten sich mitzuspielen. Ich hab dann eine wilde Bande zusammengesucht, darunter Rüdiger Vogler, der später viele Filme mit Wim Wenders gedreht hat, und Michael Gruner. Wir waren alle jung. Und am jüngsten war dieser seltsame Bursche aus Österreich, der wohlerzogen mit einem Pony-Haarschnitt aufkreuzte. Er hatte zwei Plastiktüten unterm Arm; in der einen eine Platte von den Rolling Stones, in der anderen eine von den Beatles. Unser erstes Gespräch fand – exterritorial – auf einem Tretboot statt. Wir wären beinahe ertrunken. Peter Handke, 23 Jahre alt, war gerade auf dem Weg nach Princeton, wo er gewaltig vom Leder gezogen hat."
Vom 21. bis 24. April 1966 tagte die Gruppe 47 in der Elite-Universität Princeton, 75 Kilometer südlich von New York. Etwa 80 Autoren sowie Verleger und Kritiker reisten an, darunter Siegfried Lenz, Peter Weiss, Erich Fried und Marcel Reich-Ranicki. Die meisten kamen mit dem Flugzeug, Günter Grass geriet mit dem Dampfer "Michelangelo" in einen Sturm, es gab an Bord drei Todesopfer zu beklagen.
Peymann weiter: "Während der Proben kam die Meldung aus Princeton, dass Handke die gesamte deutschsprachige Schriftstellerprominenz ausgesäbelt hatte." Die Zeitungen berichteten, dass sich eine "mädchenhafte Gestalt" zu Wort gemeldet habe. Das auf einem Zettel vorbereitete Statement war ein Rundumschlag: "Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht", beklagte Handke. Und er kritisierte die Literatur wie die -kritik als "läppisch".
Die Zeichen standen damals auf Sturm. Peymann erinnert sich: "Am Vormittag haben wir probiert, am Abend demonstriert. Das 68er-Jahr begann ja schon 1966. Und im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass die ,Publikumsbeschimpfung‘ die Grundstimmung der Generation, die gegen das Establishment aufstand, poetisch umgesetzt hat: Es war das beispielhafte Stück für die Rebellion gegen das Bestehende."
Die vier Männer auf der Bühne trugen den Text rhythmisiert vor, sie schnappten sich Mikrofone, sie benahmen sich wie eine Rock-Band und gaben eine Art Konzert mit Worten. Einer der vier war, wie bereits erwähnt, Michael Gruner. Er spielt gerade (bis 11. Juni) im Nestroyhof Hamakom in Wien den Dunkelstein.
Gruner, damals 21, war in Darmstadt engagiert. Er erzählt: "Kein Mensch kannte Peymann. Aber ich kannte Wolfgang Wiens. Er war ein hyperseriöser Dramaturg. Er sagte zu mir: ,Mach mit! Lies das doch mal!‘ Ich las es. Und dachte mir: Was soll man da spielen? Wiens sagte: ,Das wird ganz toll!‘ Na gut, ich machte mit. Aber verstanden hab ich kein Wort. Ich fand den Text vollkommen unmöglich. Dann kamen die Proben. Keiner von uns vieren hat das Stück ernst genommen. Nur Peymann. Er nahm es wahnsinnig ernst. Und Wiens sowieso."
Dann die Premiere. "Was sich da abgespielt hat: So etwas hatte ich noch nie erlebt. Es war der Wahnsinn." Das Publikum brüllte vor Lachen – oder es schrie entrüstet Buh. "Mindestens die Hälfte waren junge Leute. Und die fanden es großartig, dass einmal das Publikum beschimpft wird, dass man einmal Sachen macht, die es bis dahin noch nicht gab. Es war ein solcher Erfolg, es war so erregend, so wüst."
Das Bubi mit der Sonnenbrille
Das Feuilleton jubelte über "das größte Theaterereignis des Jahres". Danach war Handke, das Bubi mit der Sonnenbrille, der Popstar der Literatur. Gruner erinnert sich: "Wir sind dann durch die gesamte Republik getourt – von München bis Kiel. Und überall war es wie ein Rockkonzert. Und wir waren natürlich begeistert. Eben weil wir im Mittelpunkt dieser Begeisterung standen." Nachsatz: "Ich hab das Stück erst Jahre später wirklich verstanden. Es war die erste Performance für Schauspiel, der erste Schritt in Richtung performatives Theater."
Vom Erfolg waren alle überrascht, auch Peymann. "Das TAT war eine kleine Kitsche; u. a. durch die ,Publikumsbeschimpfung‘ wurde es zur führenden Avantgardebühne Deutschlands. Das Berliner Ensemble, das ich seit 1999 leite, gastierte vor ein paar Monaten in Seoul. Dort bin ich eine große Nummer, Handke ist noch eine größere. Dort gibt es ein Theater, das heißt sogar ,Publikumsbeschimpfung‘."
Das TAT schloss 2004 endgültig. Wolfgang Wiens, viele Jahre Chefdramaturg des Burgtheaters, starb 2012. Die "Publikumsbeschimpfung" aber lebt weiter: Als Aufzeichnung fürs Fernsehen – auf YouTube. Man sieht Handke, wie er danach auf die Bühne kommt: Er dirigiert den Applaus, er wirft Kusshände ins Publikum – und er verneigt sich zusammen mit den anderen im Schulterschluss. Wie eine Rock-Band nach dem größten Gig.