Gerhard Roth in der Verbrechensstadt Venedig
Von Peter Pisa
Es ist Gerhard Roth bestens gelungen, was er immer schon für lebenswichtig hielt: Er hat ein Stück aus der Pubertät ins weitere Dasein hinübergerettet, um nicht schon vor dem Tod zu sterben.
Neugierig spielt er. Spielt sich. Spielt mit uns. Manchmal nimmt er Schaufel und ein Messer in die Hand, um etwas wegzukratzen, hineinzuschneiden, herauszuholen.
"Die Irrfahrt des Michael Aldrian" spielt in Venedig, und wie bei der Stadt ist es eine Frage der Perspektive, was es vorrangig zu sehen gibt.
Meditation
In den genussvollsten Momenten wird "nur" meditiert. Wird Zuflucht vor der verrückten Realität genommen. Nahe der Rialtobrücke bei den Fischmusbrötchen in der Osteria Dai Zemei.
Oder in William Turners Vogelbildern.
Oder, noch besser, im Staatsarchiv am Campo dei Frari mit 15 Millionen Büchern und 250.000 Urkunden: das historische Gedächtnis Venedigs (allerdings vom Hochwasser und Insekten etwas mitgenommen).
Aber es ist ein Kriminalroman; wenn man das Buch so haben will. Nicht bloß so nebenbei, sondern ein handfester Kriminalroman – in dem abgehackte Hände im Karton verschickt werden.
Verbrechensstadt Venedig. Falsche 100-Euro-Scheine werden eingewechselt, die Wirklichkeit wird gefälscht, und nicht einmal zwischen den Säulen mit dem Markuslöwen und dem heiligen Theodorus soll man durchgehen. Hier wurden die Verurteilten geköpft, gehängt, gevierteilt. Zumindest die Venezianer weichen aus.
"Unser" Reiseleiter heißt Michael Aldrian. Vor seinem Hörsturz war der Wiener Souffleur in der Staatsoper. Sein Hobby, das Zaubern, pflegt er weiterhin. Es wird ihm in Venedig helfen – wo er seinen Bruder wieder einmal besuchen will. Der hat ein Geschäft für Muscheln, Perlen, Fossilien und für Michael Aldrian immer ein Zimmer frei. Aber er ist verschwunden. Samt Ehefrau.
Am Abend wird Michael Aldrian vor dem Haus niedergeschlagen ... und ins Bett gelegt. Wer macht denn so etwas?
Alle Bekannten inkl. Polizei sagen, er soll schleunigst nach Wien zurückfahren, denn er sei in Gefahr.
Paranoia
Er wird bleiben, es wird eins, zwei, drei, vier ... Tote geben. Und es wäre nicht Gerhard Roth, wenn die Reise nicht auch in den Kopf führt: Paranoia ist weit verbreitet, es ist fraglos so, dass auch ein Paranoiker tatsächlich verfolgt werden kann.
Eines noch: Mit Gerhard Roth durch die Fischhalle von Venedig zu gehen, ist wahrscheinlich eine Marterei. Weil er bei jedem toten Fisch stehen bleibt und laut über das Leben nachdenkt.
Aber von ihm zu lesen, wie aus Tintenfischen schwarze Flüssigkeit auf den Boden tropft, ist das Werk eines Dichters, in dem noch viele Wörter sind: Sein nächster Venedig-Roman ist fast fertig.
Gerhard Roth:
„Die Irrfahrt des Michael
Aldrian“
S. Fischer.
496 Seiten.
25,70 Euro.
KURIER-Wertung: *****
Und der Pfarrer kehrt die Eisberge weg
Wer alles versteht, der versäumt etwas? Na, das kann bei Gerhard Roths radikalem Roman "Landläufiger Tod" nicht geschehen. Er lebt, veränderte sich, ist wie ein Bienenstock, es wurlt vor Geschichten ... und wer sich nicht traut, versäumt nicht weniger als die „Schöpfung“: In einer psychiatrischen Anstalt wird sie neu geschrieben („Der Pfarrer kehrt die Eisberge aus seinem Haus ...“): Ein Text wie Bilder der Gugginger Künstler.
– während versucht wird, unter dem Mikroskop in einer Schneeflocke die Alpen zu sehen – es könnte Gerhard Roth sein, der das Große im Winzigen findet. Bestimmt ist er es .
Erweiterte Fassung, zum ersten Mal vollständig.
Gerhard Roth: „Landläufiger Tod“
Illustrationen
von Günter Brus.
S. Fischer.
976 Seiten.
37,10 Euro.
KURIER-Wertung: *****