G. Tavares: Portugals neuer Spitzenliterat
Von Peter Pisa
Man hätte Lust, ihn zu schlagen." Das hat José Saramago (1922–2010) über Gonçalo M. Tavares gesagt, als er vor sieben Jahren seinem Landsmann die nach ihm benannte Auszeichnung überreichte. Der Satz des portugiesische Literatur-Nobelpreisträgers ist legendär geworden:
"Tavares hat kein Recht, im Alter von 35 Jahren so gut zu schreiben. Man hätte Lust, ihn zu schlagen."
Lob und Ehrung gab es damals für den Roman "Die Versehrten" – der jetzt erst auf Deutsch vorliegt. Vergleiche mit Kafka mögen für den Autor belastend sein, sind aber berechtigt. Im Original heißt das dunkle Buch "Jerusalem". Mehrmals kommt der Psalm 137 vor: "Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren."
Böser Gott
Zwei, die jahrelang wegen Schizophrenie im noblen Irrenhaus steckten, werden ihren "Gott" Georg Rosenberg, den Klinikchef, nie vergessen. Böser Gott. Die Namensähnlichkeit mit Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg passt: Seine Patientin Mylia, die Hauptfigur, hat er zwangssterilisiert.
Mylias geschiedener Mann forscht einstweilen "draußen" nach der mathematischen Formel, mit der man berechnen kann, wann das Böse wieder so gewaltig zuschlägt wie unter Hitler.
Dass er sich dabei mit Fotos misshandelter Frauen aufgeilt und dann zu Prostituierten läuft, ist ihm keine Forschung wert.
Zufällig (wie man so sagt) treffen alle einander nachts vor einer Kirche.
Auch Mylias behinderter Sohn, den man ihr in der Nervenklinik vor 12 Jahren weggenommen hat, taucht auf; und ein Mann mit dem Namen Hinnerk Obst. Der war leider – wie der Forscher – nie im Irrenhaus. Obwohl er mit seiner Pistole aus dem Fenster seiner Wohnung gern Kinder in der Nachbarschule anvisiert.
So.
Und was haben wir Leser von dieser Begegnung? Was will uns Tavares über Wahnsinn, Gewalt, Leid, Macht und Menschlichkeit sagen? Genau das ist das Großartige: Er hat "nur" ein Haus gebaut. In einem umwerfend schlichten Stil, der keineswegs verwirrt, hat er fünf Stockwerke gebaut; mindestens fünf.
Die freien Räume aber, die muss sich jeder selbst einrichten. Wie bei Kafka. Sie sind unsere Welt, minimalistisch aus den schrecklichsten, wichtigsten Bestandteilen neu zusammengesetzt. Selbst wenn wir es nicht wollen: Irgendwo da drinnen ist unser Platz.
Der letzte Satz zeigt die ganze Hilflosigkeit unseres verrückten, verzweifelten Tuns. Da trommelt Mylia an die Kirchentür: „Ich habe einen Menschen getötet! Darf ich reinkommen?"
KURIER-Wertung: ***** von *****
Claudia Piñeiro: "Der Riss"
So unscheinbar in der immer gigantischer werdenden Bücherflut (gut 30.000 neue Romane pro Jahr), und so etwas Feines:
Drei Architekten in Buenos Aires haben einen lästigen Kerl in einem Haus einbetoniert. Der hatte einen Riss in seiner Wohnung und wollte Geld.
Aber ein Krimi ist das trotzdem nicht. Der Riss, mit dem sich Claudia Piñeiro – seit "Die Donnerstagswitwen" Shootingstar der argentinischen Literatur – so klug und konzentriert spielt, ist ja nicht nur an einer Wand zu sehen. Er geht z. B. auch durch die Familie eines der Architekten, der seit Jahren weder den Absprung aus dem Büro noch aus seiner Ehe schafft.
... und jeden Tag zeichnet dieser Pablo, Mitte 40 ist er, ein nach Norden ausgerichtetes elfstöckiges Hochhaus und steckt die Skizze in einen Ordner. Er wird es nie bauen. Oder vielleicht doch?
Pablo muss erst gegen einen Eisberg stoßen, um das Ruder herumzureißen. Und dann wird "Der Riss", sein ganz persönlicher Riss, nicht zugespachtelt. Was sogar dazu führt, dass sich eine andere Bruchstelle in seinem Leben schließt. Klingt geheimnisvoll, muss es auch, weil das Lese-Vergnügen hier nicht gefährdet werden soll.
KURIER-Wertung: **** von *****
Harald Friesenhahn: "Canard Saigon"
Als Freund von Kriminalromanen hat sich der Burgenländer Harald Friesenhahn – ein studierter Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler – gefragt, ob er "so was" denn auch kann.
Friesenhahn kann; und er soll weiterschreiben. Eine Aufforderung, die man nach den ersten 100 (von 500) Seiten nicht unbedingt machen würde.
Weil eine Teamsitzung nach der anderen bei der Wiener Polizei das Blut beim Lesen noch nicht so richtig in Wallungen bringt.
Es geht um einen Serienmörder, der Frauen verschleppt, ihnen die Kehle durchschneidet, die Leiche mit Mist überschüttet und Entenfedern dazulegt. Einmal vier, einmal zwei ...
Die Spur führt in ein auf Schilddrüse spezialisiertes Krankenhaus, aber Gott sei Dank nicht nur, sondern (sehr spät, aber doch) auch in die Fremdenlegion – in die 1940er- und 50er-Jahre nach Indochina.
Ein Bordell mit Enten-Spezialitäten wird zum schockierenden Zentrum eines „Buches im Buch“; und jetzt merkt man: Der Autor hat für sein Debüt viel recherchiert, und er braucht zum Erzählen gar kein Krimi-Gerüst.
Jedenfalls legt man von diesem Zeitpunkt an "Canard Saigon" erst aus der Hand, bis der Täter in seinem Kastenwagen den finalen Orgasmus hat.
KURIER-Wertung: **** von *****