Frischmuth: Drei Frauen und drei Todesfälle
Von Peter Pisa
Barbara Frischmuth ist, mit Verlaub, ein alter Hase. Vor 44 Jahren trat sie als Schriftstellerin mit "Die Klosterschule" erstmals in Erscheinung.
Ihre Kunst, Buchstaben zum Atmen zu bringen, ist am Höhepunkt angelangt.
Von ihr kann man sich sagen lassen, "Woher wir kommen": Aus dem Leid kommen wir, sonst wären wir noch blassere Typen.
... und wohin wir gehen (sollen), trotzdem, das sagt uns die 71-jährige Altausseerin ebenfalls. Die Details machen es unmöglich, "ihre" drei miteinander verwandten Frauen zu vergessen.
Man wird dem großen Roman nicht gerecht, lässt man ihn auf ein paar Sätze über den Inhalt schrumpfen.
Wir beginnen mit dem Unrecht von "hinten", 1943, obwohl der Roman 2009 startet (denn aus der Gegenwart heraus wird erzählt): Die blutjunge Lilifee versteckt einen russischen Kriegsgefangenen im steirischen Salzkammergut. Sie wird schwanger. Ihr Vater liefert ihn der SS aus. Lilifee muss abtreiben. Nie mehr wird sie sich binden.
Istanbul
Ihrer Cousine Martha überlässt sie 1989 den "Seehof". Martha macht aus dem Gasthaus ein Hotel mit Haubenrestaurant. Ganz allein. Sie hatte mit ihrem Partner, einem britischen Journalisten, in Istanbul gelebt und Zwillinge zur Welt gebracht. Er kam auf dem Berg Ararat um, gemeinsam mit einem kurdischen Journalisten. Unglück? Mord?
Marthas Tochter Ada ist die Dritte. Eine Künstlerin, die in Wien lebt. Wer ihr zuschaut, bekommt Lust, selbst ein Bild zu collagieren. Müssen ja nicht unbedingt Schlangenknochen aufs Papier. Ihr Freund und Kollege beging Selbstmord.
Die 28-Jährige ist die Einzige, die das Eis brechen lässt. Die sich eine zweite Chance gibt, mit einem einstigen Schulkameraden, der – in ihrer Gefühlswelt großartig beschriebene – Kinder hat und Witwer ist.
Ein Chor anonymer Einheimischer schwätzt zwischendurch. Dummes, Gemeines – und Informatives über den Krieg im Ausseer Land. Er nimmt Barbara Frischmuth Arbeit ab. Sie konnte sich voll um die wirklichen Menschen kümmern. Die würden es ihr danken. Stattdessen danken Leser.
KURIER-Wertung: ***** von *****
Olga Flor - "Die Königin ist tot"
Bevor "Die Königin ist tot" beginnt, steht ein berühmtes Shakespeare-Zitat aus "Macbeth"; und dann, der erste Satz im Roman: "Ich lasse mich immer gern ficken von einem Krieger."
Das ist also die alte Geschichte, modernisiert, in die nahe Zukunft nach Amerika verlegt und in Richtung Marlene Streeruwitz, Elfriede Jelinek geschrieben – und selbstverständlich nach Olga Flor klingend: Große Vorfreude herrschte übers neue Buch der Physikerin aus Wien, die 2008 in dem Roman "Kollateralschaden" einen Supermarkt zum Zentrum der Aggressionen machte (was er ja ist).
Die neue Lady Macbeth nennt sich Lilly. Sie zog 26-jährig aus dem elenden Europa nach Chicago, wo es allerdings auch schon Aufstände und Plünderungen der Hungrigen gibt, und blies sich sozusagen im Lift nach oben: in den 68. Stock eines Wohnturms, wo der um gut 30 Jahre ältere Medientycoon Duncan seine Fernsehsender in der ganzen Welt dirigiert.
Seine Haut schmeckt zwar fahl, wie Berlusconi, aber er heiratet Lilly, und das war es ja, was sie erreichen wollte.
Ihre Gefühle hat sie in sicheren Behältern abgelegt. Sie misstraut ihnen. Weil es Lilly ist, die erzählt, muss auch die Sprache im Roman tiefgekühlt sein. Die Sprache ist das Interessanteste, das geboten wird.
Bald legt Duncan seine Ehefrau ab. Er reicht sie freundlicherweise an seinen Kronprinzen in der Firma, Alexander, weiter und schenkt dem neuen Paar sein 68. Stockwerk.
Viel kommen Lilly und die Leser nicht herum. Eine Villa am Meer gab es vorübergehend, aber aus Sicherheitsgründen durften Lilly und ihre Kinder selten ins Freie.
Macbeth: Der alte König Duncan wird umgebracht, die Schuld auf einen kleinen Angestellten geschoben.
Lillys Gefühle sind nun nicht mehr in sicheren Behältern. Sie ärgert sich, sentimental zu werden. Sie fantasiert. Schließlich tut sie, was ihr einst Shakespeare befohlen hat.
Wer Olga Flors "Kollateralschaden" nicht gelesen hat, der hat etwas versäumt.
Gern würde man das auch bei "Die Königin ist tot" sagen können.
KURIER-Wertung: **** von *****
Eric-Emmanuel Schmitt - "Die Frau im Spiegel"
"Ich glaube, ich bin anders ... " So beginnt "Die Frau im Spiegel", ein 431 Seiten dickes historisches Porträt dreier junger Frauen, die trotz oder vielleicht gerade aufgrund der unterschiedlichen Epochen, in denen sie leben, ein gemeinsames Schicksal vereint.
In jedem Kapitel versteht es der Franzose Schmitt aufs Neue,spannend einen Lebensabschnitt zu erzählen und die Frauen über Jahrhunderte hinweg zu vernetzen.
Dass sie anders sind, das verbindet die Romanfiguren. Anders sein – ist das positiv? Kann man, will man es sich leisten, den gesellschaftlichen Normen zu trotzen? Was ist der Preis?
Schmitt, der in Philosophie promoviert hat, präsentiert seine Sichtweise auf das Phänomen des Andersseins in seiner bekannt einfachen und einfühlsamen Art.
Anna von Brügge lebt in der Zeit der Renaissance. Aufgrund ihrer bewussten Entscheidung gegen eine Ehe und ihre Ansichten über die Natur und Gott steht die Kirche mit ihr auf Kriegsfuß. Sie wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Hanna lebt im Wien der Jahrhundertwende. Auch sie entscheidet sich gegen die Ehe und lässt sich scheiden. Kurz vor ihrem Tod entdeckt sie ihre Leidenschaft für Gedichte der Flämin Anna von Brügge.
Anny, die dritte hier und jetzt, ist eine bekannte Filmschauspielerin, deren Leben nur aus Alkohol, Drogen und Liebhabern besteht. Fixe Bindungen unmöglich. Beim nächsten Filmangebot sagt sie begeistert zu: Sie wird die Hauptrolle spielen ... in einem Porträt über die junge Anna von Brügge.
So kommen die jungen Frauen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Die jedoch das Wesentliche gemeinsam haben: das Bewusstsein, dass sie ihrer Zeit weit voraus sind und dass sie sich auf der Suche nach sich selbst befinden.
Jasmin Surm
KURIER-Wertung: **** von *****