Kultur

Flaschenpost aus Wetzelsdorf

Der Weg von Orscha nach Wetzelsdorf ist weit.

Orscha ist ein Industriestädtchen im heurigen Weißrussland, Wetzelsdorf gehörte in den 1920er Jahren noch nicht zu Graz, sondern war ein Vorort. Erst 1938 wurde es in "Groß-Graz" eingemeindet, da war Gerschon Schoffmann mit Frau und seinen zwei Kindern bereits die Flucht nach Palästina geglückt.

Aber in Wetzelsdorf hatte er jemanden aus seiner Geburtsstadt getroffen. Einen Mann, der nett grüßte, wenn man an seinem Fenster vorbeikam.

Vielleicht war es ja nur eine Täuschung. Vielleicht gab und gibt es "solche" ja überall, etwas versteckt halt – aber (und darüber schrieb Schoffmann 1925 eine seiner vielen Skizzen):

"... Die gleichen freundlich strahlenden Augen, dieselbe Gutherzigkeit, dasselbe Lächeln und die gleiche Reihe Zähne ... Kein Jude, kein Russe, kein Pole und kein Deutscher. Der Mensch. "

Geflüchtet

In Israel wurde Gerschon Schoffmann verehrt, er bekam Preise für seine Literatur.

In Österreich, wo er seine bedeutendsten Erzählungen geschrieben hat, erinnert so gut wie nichts an ihn.

Er hat kaum Spuren hinterlassen – wie Gerald Lamprecht, Historiker und Leiter des Centrums für Jüdische Studien an der Carl-Franzens-Universität in Graz, erkennen musste.

Nicht in Wien, nicht in Baden bei Wien, nicht in Wetzelsdorf: Aus der Armee des Zaren desertiert, kam er 1913 als staatenloser jüdischer Flüchtling. 13 Wohnungswechsel sind nicht gerade Symbol der Geborgenheit.

Das änderte sich nach der Heirat mit der Niederösterreicherin Anna Plank. Dass deren erster Sohn den Vornamen Peter bekam, hängt mit dem Dichter Peter Altenberg zusammen.

Ihn liebte Schoffmann, in dessen Texten lebte Altenberg noch länger weiter ... und spätestens jetzt sollte erwähnt werden: Zum allerersten Mal ist soeben auf Deutsch ein Buch von Gerschon Schoffmann erschienen, herausgegeben von Gerald Lamprecht.

Eine behutsame Sammlung von Erzählungen, die er 1913 bis 1938 in Österreich geschrieben hat.

Erste Leser gerieten ins Schwärmen – am schönsten drückt es die Schriftstellerin Eva Menasse aus:

"Eine frische, großartige Sprache, scharfe, unvergessliche Bilder – Schoffmanns poetische kleine Erzählungen sind wie eine goldene Flaschenpost aus einer lange versunkenen Welt."

Aufrecht

Alltagsgeschichten von Russland bis zu den Hakenkreuzen auf den Straßen von Graz und dem verfeindeten katholischen und jüdischen Kindergarten.

Beispiel für eine steirische Beobachtung: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Hunger ... "Da kommt einer in einen Lebensmittelladen voll mit Kunden und Kundinnen und spricht die Krämerin vor allen an:

– Geben Sie mir bitte etwas vom Abfall – zum Essen ...

Aufrecht auch jetzt."


Gerschon Schoffmann:
„Nicht für immer“
Herausgegeben von GeraldLamprecht.
Übersetzt von Ruth Achlama. Droschl Verlag.
350 Seiten. 25 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

Noch ein Vergessener: Arthur Rundt

Europa muss aufhören zu glauben, dass Amerikas Außenpolitik von Gefühlen geleitet werde oder von ethischen Gesichtspunkten oder von Sympathien für diese oder jene Partei ... Amerikas Wünsche für Europa heißen: Ordnung, Arbeit und weniger politisches Geschwätz. Und wenn es Geld hergeben soll: ausreichende Sicherheiten und hohe Zinssätze.“
Die aktuell klingenden Sätze schrieb jemand ... 1925: Arthur Rundt, Schriftsteller, Feuilletonist, Theaterdirektor – noch ein Vergessener. Vergessen schon in den 1930ern. Ihm gelang noch, nach zwei Schlaganfällen, die Flucht nach New York, wo er 1939 starb. 58 war er.
43 Folgen In den Zwanzigerjahren war Rundt eine bekannte Persönlichkeit. Um „Kunst fürs arbeitende Volk“ zu machen, gründete er 1912 in Wien die Volksbühne (im heutigen Renaissancetheater in der Neubaugasse).
Ab 1924 reiste er mehrmals nach Amerika, und der Roman „Marylin“ ist eine der interessanten Folgen davon. Der amerikanische Traum wird zerfetzt.
Die Neue Freie Presse druckte „Marylin“ 1928 in 43 Folgen ab. Jetzt erst ist die kühle, traurige Geschichte Buch geworden, dank des Klagenfurter Literaturwissenschaftlers Primus-Heinz Kucher, der Arthur Rundt damit gewissermaßen seinen Namen zurückgibt.
Und „uns“ ein Stück dramatische Unterhaltungsliteratur, die mehr sein wollte und mehr ist. Das fortschrittliche Amerika geht ins rassistische über. Marylin – die moderne Frau mit „Fünfundzwanzig-Dollar-Stellung“ in einem „Office“ – hat zwar helle Haut, doch stammt sie aus der Karibik, und als sie in Chicago einen Architekten heiratet und ein Kind von ihm bekommt, schlägt beim Baby die dunkle Farbe durch. Sofort zweifelt der Vater, dass er ... und selbst, als er seine eigenen Vorurteile im Griff hat, hat er „sein“ ganzes weißes Amerika gegen sich.
Der Zeitpunkt fürs Buch ist gut. Ist immer gut.

Arthur Rundt:
„Marylin“
Herausgegeben von Primus-Heinz Kucher. Edition Atelier.
176 Seiten.18 Euro.

KURIER-Wertung: ****