Kultur

Grönland, bis unter die Perücken

In der TV-Sendung "Das Literarische Quartett" hat einst Marcel Reich-Ranicki aufgeschrien:

"Was interessiert mich Grönland?"

Dabei ist es – im Eis, im Nebel, Blick aufs Meer, Forelle in der Pfanne – ein guter Ort, um Überheblichkeiten abzulegen. Man wird, was man ist (aber oft vergisst): So klein.

Der Schriftsteller Kim Leine wurde 1961 als Sohn dänischer Eltern in Norwegen geboren. Oft ist er in Grönland. Weil er nicht immer dort sein kann, schreibt er über Grönland.

Er schreibt, was die Dänen um 1780/’90 in ihrer Kolonie verbrochen haben: Herrenmenschen (= Kaufleute, Pfarrer), die den Grönländern gewaltsam und demütigend die Kultur nahmen.

"Ewigkeitsfjord" ist demnach ein historischer Roman. Wenn jemand auf dem Meer über die Reling kotzt, dann heißt es: Man bringt den Wellen ein Opfer.

Läuse

Aber trotzdem ist es ein sehr moderner Roman.

Ähnlich der Art von Hilary Mantel (England, 16. Jahrhundert) ist er in unmittelbarer Gegenwartsform geschrieben – aber nicht so asketisch.

Im Gegenteil: Die Grönlandreise geht bis in die Rosshaarperücken der Dänen hinein, wo Läuse sitzen und auf die Schlafpritschen springen, um sich mit den dort beheimateten Läusen zu paaren.

Eine derartige Lebendigkeit braucht Platz. Wenige Seite nur will man überspringen. Man will Nässe spüren und Kälte, man will den ranzigen Speck riechen und von mir aus auch die Ruhr.

Leerläufe gibt es selten.

Viel hat uns Kim Leine zu sagen – ausgehend von einem Missionar: Morten Falck hatte zwar in Kopenhagen Theologie studiert, aber nur, weil ihm der Vater das Medizinstudium nicht finanzierte.

Falcks Credo ist: "Der Mensch ist frei geboren, aber überall liegt er in Ketten" (Rousseau).

Er selbst versucht, seine Ketten abzulegen. Alles will er kennenlernen, ausprobieren, auch "Unzucht" in vielen Spielarten, und schließlich verlässt er Eltern, Schwester, Verlobte, um als Pastor zu "den Wilden" zu gehen.

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Auch in Grönland liegt es ihm fern, jemandem Fesseln anzulegen. Das machen seine Landsleute. Nicht einmal das Treibholz dürfen die Einheimischen sammeln, um daraus Hütten zu bauen, eh nur mit Darmhäuten als Glasersatz für die Fenster.

Die Gemeinschaft, die sich in einem "ewigen" Fjord niederlässt und die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit lebt ... die darf freilich gar nicht sein und muss in Flammen aufgehen.

Es ist ein Buch der Aufklärung. Vor allem aber ist es als Buch dramatischer Gefühle angelegt: Es ist möglich, einander zu lieben und einander trotzdem umzubringen. Es ist möglich, schrecklich zu irren und trotzdem ein guter Mensch zu sein.

Von Lesern wird erwartet, dass sie erschüttert sind. Wird erledigt, gern.

KURIER-Wertung:

INFO: Kim Leine: „Ewigkeitsfjord“ Übersetzt von Ursel Allenstein. Hanser Verlag. 640 Seiten. 25,60 Euro.

Dass man im deutschsprachigen Raum so verrückt nach T.C. Boyle ist, hängt mit Werner Richter zusammen. Der Wahl-Wiener bekam vor 25 Jahren "Water Music" in die Hand und übersetzte, einfach so. Sieben Monate arbeitete er, mit Mühe fand sich ein Verlag.

"Wassermusik" – das Abenteuer des Schotten Mungo Park, der den Verlauf des Niger erforschte – wurde Kult. Boyle hat viel Gutes geschrieben, Besseres nicht.

Wenn jetzt die vergriffen gewesene "Wassermusik" neu erscheint, ist Richter nicht mehr der Übersetzer. Das muss wohl damit zutun haben, dass er als "schwierig" gilt: Weil er z.B. vor Gericht durchzusetzen versuchte, dass Übersetzer nicht "irgendwie" zu honorieren sind, sondern "angemessen". (Bravo!)Notwendig war die Neuübersetzung nicht. Jetzt steht "Unter seiner metallenen Haube grinst der Entdecker dümmlich" statt "Der Entdeckungsreisende grinst dümmlich unter seiner schimmernden Haube". Der Roman bleibt groß.

KURIER-Wertung:

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Die Freunde von Eddie Coyle. Reden zwei Gauner miteinander. Sagt der eine: "Wo ist dein Auto?"

Sagt der andere, zuerst habe er die Rechnung von der Versicherung gekriegt, und dann habe er eine Spritztour gemacht: "Ich musste das Scheißding volltanken. Hat mich neun Dollar gekostet – Super natürlich –, und da hab ich dann gesagt: Scheiß drauf, die verdammte Schüssel macht mich noch arm."

Neun Dollar. Aha.

"Die Freunde von Eddie Coyle" spielt in den 1970er-Jahren, und zwar in der Unterwelt von Boston. Eddie Coyle ist ein Waffenschieber. Er versucht, dem Gefängnis zu entgehen, indem er einen "Kollegen" verpfeift. Fast immer wird geredet: "Du Arsch hast gut lachen" und so ...

US-Autor Georg V. Higgins (1939–1999) war Staatsanwalt, später Rechtsanwalt. Er hatte den Ton seiner "Kundschaft" drauf und machte Literatur daraus. Der Krimi, mit Robert Mitchum 1973 verfilmt, gilt als einer der besten aller Zeiten.

Sagen wir so: Er beeindruckt. Man beobachtet ihn beim Lesen und ist von der treibenden Kraft der Dialoge angetan. Es ist kein Krimi, der abends Kribbeln bringt, ehe man in den Schlaf fällt.

KURIER-Wertung:

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