Eintracht statt Kontroverse: Turner-Preis an alle vier Nominierten
Von Michael Huber
Jahrelang stand der Turner-Preis für Kontroversen und Kunstskandale. Nun steht er offenbar für Eintracht und Versöhnlichkeit, und allein das sagt viel über den Gesinnungswandel in der zeitgenössischen Kunst aus.
Der renommierte Preis geht in diesem Jahr erstmals an alle vier nominierten Künstler. Ausgezeichnet wurden Helen Cammock, Tai Shani, Lawrence Abu Hamdan und Oscar Murillo. Die zwei Frauen und zwei Männer hatten die Jury in einem Brief darum gebeten, den Preis teilen zu dürfen, als Statement der „Gemeinsamkeit, Vielfalt und Solidarität in einer Zeit der politischen Krise“. Sie wollten damit nach eigenen Angaben ein Zeichen setzen „in einer Ära, die vom Aufstieg der Rechten und von der Erneuerung des Faschismus geprägt“ sei.
Mit ihrer Bitte hätten die Nominierten der Jury eine Menge zu denken gegeben, sagte deren Vorsitzender und Direktor der Tate Britain, Alex Farquharson, bei der Verleihung am Dienstag im englischen Margate. Aber es sei „sehr im Geiste des Werkes dieser Künstler, Konventionen herauszufordern, polarisierten Weltsichten zu widerstehen und andere Stimmen zu vertreten“.
Alle haben sich lieb
Ihr Werk sei „inkompatibel mit dem Wettbewerb-Format, dessen Tendenz es sei, zu spalten und zu individualisieren“, teilten die Künstler in einer gemeinsamen Erklärung mit, die von Cammock verlesen wurde. Die Britin war für einen Film über die Rolle von Frauen zu Beginn des Nordirland-Konflikts nominiert.
Als Favorit hatte der kolumbianisch-britische Künstler Oscar Murillo gegolten. Er schuf eine Installation von lebensgroßen menschlichen Figuren, die wie eine Kirchengemeinde vor einem teils verhangenen Fenster mit Ausblick auf das Meer auf Bänken gruppiert sind.
Der im Libanon lebende Lawrence Abu Hamdan hatte mit Soundeffekten die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge an die Geräusche in einem syrischen Foltergefängnisses auf verschiedene Weise verarbeitet.
Die britische Künstlerin Tai Shani schuf mit ihrer Installation eine in grellen Farben gestaltete feministische Fantasiewelt mit dem Titel „Beyond patriarchal limits“ (Jenseits patriarchalischer Grenzen).
Kein Pferderennen der Kunst mehr?
Der Turner-Preis ist die wichtigste britische Auszeichnung für moderne Kunst. Er ist nach dem englischen Maler William Turner (1775-1851) benannt und wird seit 1984 vergeben. Von 1991 bis 2017 war der Kreis der infrage kommenden Personen auf Menschen unter 50 Jahren beschränkt. Der Turner-Preis fungierte daher in den 1990er Jahren als Verstärker und als Medienplattform für die Karrieren von Damien Hirst (Preisträger 1995), Tracy Emin (nominiert 1999) oder Jake & Dinos Chapman (nominert 2003) ein. Zudem zementierte er das Image von "typisch britischen" Schrägvögeln wie Gilbert & George (Preisträger 1986), Martin Creed (2001) oder Grayson Perry (2003) ein.
In einem weiteren Akt der Inklusion wurde das Alterslimit 2017 abgeschafft, das Preisgeld von 40 000 Pfund (knapp 47 000 Euro) teilen die vier Künstler nun unter sich auf. Ob die Gesten wirklich für ein Umdenken stehen oder nur den Umstand kaschieren, dass die Kunstwelt ein äußerst hierarchisches und individualistisches Feld bleibt, in dem kleiner nur ein Bruchteil der Akteure einen Durchbruch schafft, bleibt abzuwarten.