Eine Schlange von Schwachköpfen in James Sallis' neuem Roman
Von Peter Pisa
Eine Grube mit vielen Leichen, später wird man auch Kisten mit beschriftetem Papier finden, aber alles ist mittlerweile unleserlich.
Damit beginnt „Willnot“, gleich danach macht James Sallis - Bild oben -, was er beherrscht wie kein anderer Krimiautor (na gut, eigentlich ist er ja überhaupt kein Krimiautor):
Er entfernt sich von der Grube und stellt lieber mehrere Bewohner von Willnot vor, das ist eine Kleinstadt im ländlichen Amerika.
Da ist der Arzt, er ist unser Erzähler, und sein Lebensgefährte, ein engagierter Lehrer. Da sind Patienten im Spital; der Sheriff taucht auf; ein Mann, der die Obrigkeit provoziert, fährt mit dem Auto vor; ein Scharfschütze von den US-Marines schaut nach Jahren wieder einmal bei seinem ehemaligen Arzt vorbeischaut ... ein Scharfschütze?
Weshalb war er früher in Behandlung?
Für die Ewigkeit
Sallis lässt sein Personal über Tschaikowsky reden bzw. kümmert sich um eine Katze, die sich übergibt bzw. vergleicht er die Haut eines alten Mannes mit der Decke einer Gitarre, deren Farbe sich über die Zeit verändert hat – helle Stellen, Risse im Lack.
Jedenfalls verliert er vorerst kaum ein Wort über die Grube, und die Neugierde wird dadurch größer, und die Spannung steigt.
Hat man einmal etwas vom mittlerweile 74-Jährigen gelesen – zum Beispiel den Roman, der ihn berühmt machte (und 2011 mit Ryan Gosling erfolgreich verfilmt wurde): „Driver“ –, dann will man alles von ihm. In der Hoffnung, wieder einen solchen Satz für die Ewigkeit zu finden wie:
„Meinungen sind wie Arschlöcher. Jeder hat eine.“
James Sallis reduziert und reduziert, trotzdem ist in seinen intensiv kurzen Romanen noch ordentlich Platz für offene Fragen zum Selberantworten; und für viele echte Menschen im Buch, über die es diesmal abwechselnd heißt:
Sie sind eine „brodelnde Masse von Widersprüchen“.
Es sind „immer mehr durchgeknallte Gestalten“, die sich „in der kilometerlangen Schlange von Schwachköpfen“ einreihen.
Was allerdings kein Wunder ist, dass sie nicht gut drauf sind. Denn: „Niemand landet dort, wo er hinwollte.“
„Willnot“ ist Philosophie, jedoch letztlich auch Mystery und Crime. Auf den verdächtigen Scharfschützen wird übrigens geschossen.
Ganz klar sehen soll man nach der letzten Seite nicht, was den Täter betrifft.
Sonst schon, sonst ist alles klar, in Willnot werden T-Shirts verschenkt, auf denen die (amerikanische) Botschaft steht: DANKE, MIR REICHT’S.
James Sallis:
„Willnot“
Übersetzt von
Jürgen Bürger und Kahrin Bielfeldt. Liebeskind Verlag. 240 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern