Kultur

Ein neu entdecktes Fenster geht auf – Wien um 1912

Damals tranken auch die härtesten Militärs in den Kaffeehäusern ein süßes Likörchen, selbst am Nachmittag roch es nach frisch gedruckten Zeitungen, die Prostituierten trugen Hüte.

Die moderne Zeit erwachte, das Bürgerliche krachte, noch war der Krieg nicht in Sicht. Man betäubte sich, und es war öd und leer.

Damals – 1912 – kam aus einem Schtetl in der heutigen Ukraine David Vogel nach Wien. Ein junger Dichter auf Wanderschaft.

21 war er.

Dreieck

Er hungerte, bettelte, arbeitete als Lastenträger ... Wahrscheinlich begann er gleich mit der Dreiecksgeschichte „Eine Wiener Romanze“.

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Im Kern autobiografisch. Denn Vogel hatte selbst erlebt, was er dem 18-jährigen Michael Rost auf den Leib schrieb (wobei nur die Romanfigur höchst unbekümmert ist):

Er mietet sich bei braven Bürgern ein, der Ehemann ist dienstlich auf Reisen, Ehefrau Gertrud – Mitte 30 – zieht sich sehr schnell vor Michael Rost aus.

Das bemerkt die 16-jährige Tochter – sie „will auch haben“. Nein, so kann man das nicht sagen: Es ist ein zartes Erblühen. (Nicht selten hat sich eine heranwachsende Frau umgebracht, weil sie schwanger wurde.)

Schwarze Flecken

Angeblich lagen die 15 großen Bögen Papier mit anderen Texten im Hof einer Pension im Südosten Frankreichs vergraben.

Eng beschrieben, sodass die Buchstaben wie schwarze Flecken ausschauen.

In der Kleinstadt Hauteville war Vogels letzter Aufenthaltsort, ehe ihn die Gestapo fand und er 1944 in Auschwitz ermordet wurde.

Das Manuskript landete bald nach dem Krieg in einem Archiv in Tel Aviv, wo David Vogel als Pionier der hebräischen Literatur verehrt wird. Es dauerte noch bis 2010, ehe man den Fund Buchstabe für Buchstabe entzifferte und den Roman erkannte.

Mit vielen jüdischen Immigranten, die im Buch ein und aus gehen. Manche hätten länger bleiben sollen.

Mit einem Tenor am Wirtshaustisch, der (vielleicht) bei Begräbnissen singen darf.

Mit einem Anarchisten, einer Feministin, einem zwielichtigen Millionär, der ebenfalls durchaus ausbaufähig gewesen wäre. Mit Volksgarten und Militärmusik.

Frauenkenner

Und mit Sex und Brutalität. Denn ist auch nicht alles ausgefeilt worden, so konzentriert sich dieses Jugendwerk genau darauf.

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Als ein Vorläufer von Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“.

Als Vorweggnahme von Nabokovs „Lolita“.

... und ist der Mann nicht brutal, dann redet er wie ein Trottel. Besonders der zurückgekommene Hausherr. Niemals, schwätzt er ausgerechnet vor seinem neuen Mieter, würde ihn seine Gertrud betrügen. Denn: Vor allem müsse man Frauen zu nehmen wissen, „darauf kommt es in erster Linie an“.

Jawoll.

KURIER-Wertung:

INFO: David Vogel: „Eine Wiener Romanze“ Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Aufbau Verlag. 316 Seiten. 23 Euro.