Kultur

Egon Schiele: "Der melancholische Provokateur"

Ein Prachtband. Fünf Kilo wiegt das neue Werkverzeichnis von Egon Schiele im XXL-Format. Herausgeber ist Tobias G. Natter.

KURIER: Was ist alles passiert seit dem letzten Schiele-Werkverzeichnis von Jane Kallir, der Enkelin des Schiele-Sammlers Otto Kallir, 1990 publiziert?Tobias G. Natter: Es gab viele Ausstellungen, viel neue Literatur und damit auch die Deutungsvielfalt. Die Aktualität eines Künstlers misst sich ja immer daran, dass er fragwürdig bleibt im besten Sinn. Dass eine neue Generation von Künstlern und Wissenschaftlern und die Öffentlichkeit etwas damit anfangen kann. Provenienzen, wie wir sie heute verstehen, waren 1990 noch kein Thema. Und jetzt ist alles erstmals durchgängig in Farbe abgebildet.

Und keines der bisher fünf Werkverzeichnisse hatte wie das Ihre Kommentare?

Ja. Ich habe jedes Werk ausführlich beschrieben. Und die Aquarelle sind, auf Spezialpapier gedruckt, im Grund Faksimile-Reproduktionen in Größe, Papierqualität und Farbe. An der Farbabstimmung allein haben wir mit italienischen Litho-Fachleuten ein halbes Jahr getüftelt.

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Interessant, dass bisher stets Einzelpersonen ein Schiele-Werkverzeichnis erarbeitet haben.

Ja, nie eine Institution, das ist schon merkwürdig. Eigentlich verrückt. Das waren fast immer Kunsthändler oder verkappte Händler wie Rudolf Leopold, die sich heftigst ergänzt, bekriegt, gebraucht, gehasst und Zweckallianzen gebildet haben.

Gibt es neue Erkenntnisse, was die Schiele-Werke in der Sammlung Dichand betrifft?

Die Grunderkenntnis ist: Hans Dichand hat großartig gesammelt. Elisabeth Leopold sagt immer, die Sammlung habe sowieso ihr Mann aufgebaut. Bis zu einem gewissen Grad wird das vielleicht auch stimmen. Leider ist noch nicht entschieden, wer was von Hans Dichand geerbt hat. Damit ist die Sammlung jetzt leider auch nicht zugänglich. Wo sie sich wirklich befindet, das weiß man nicht.Haben Sie noch ein bisher unbekanntes Schiele-Werk entdeckt?

Nein. Das gab es früher, ich habe kein Werk mehr entdeckt, aber sechs Gemälde, die bisher übersehen wurden, archivalisch gefunden. Also die gibt es, dazu weiß man auch etwas durch Erwähnungen, aber die Originale sind verschollen.

Also könnte noch irgendwer irgendwo noch ein bisher unbekanntes Schiele-Bild haben?

Das wäre für diese Zeit eine Sensation. Es ist jetzt schon lange nichts mehr aufgetaucht. Auch von dem, was archivalisch bekannt ist, geht uns nicht viel ab, was nicht verzeichnet wäre. Von "Sommernacht" (1911) etwa gibt es keine Abbildung, aber das Bild ist in einem Brief von Schiele erwähnt. Möglich, dass so etwas noch auftaucht. Aber dass ein Schiele-Werk gefunden wird, das weder archivalisch noch als Bild bekannt ist, wäre sehr unwahrscheinlich.

Was war Ihr Anspruch?

Zu berichten, was wir vom einzelnen Bild wissen, mit Dokumentation, Literatur, Ausstellungen, Provenienz. Die Schiele-Daten-Bank im Leopold Museum hat 3500 Einträge. Vor allem ging es mir darum, in einem räsonierenden Verzeichnis die Deutungsvielfalt, Wege und vielleicht auch manchmal Irrwege darzustellen und auch auf Lücken der Forschung hinzuweisen.

Es gibt ja das Gerücht, Rudolf Leopold habe bei Schiele-Zeichnungen selbst Hand angelegt?

Ich versuche, im Verzeichnis auch auf die Zustände der Werke einzugehen. Ein Thema sind schon Fälschungen, die natürlich nicht verzeichnet sind, und Arbeiten, die verrestauriert wurden. Wo sich die Frage stellt: Was ist noch original von Schiele? Außerdem blieben durch seinen Tod Bilder in seinem Atelier unvollendet. Die wurden irgendwann fertig gemalt – wahrscheinlich von Anton Peschka, Schieles Schwager und Miterben. Bei Leopold ist das Thema, dass er irgendwann einmal begonnen hat, selbst Restaurator zu spielen.

Sehr treffend für Schiele ist das Schlagwort vom "melancholischen Provokateur".

Elisabeth Leopold hat es erfunden. Das zitiere ich. Schiele ist unglaublich in seiner performativen Inszenierung, wie Klaus Albrecht Schröder einmal schrieb. Das Wechselspiel ist typisch für ihn. Ich habe einmal Madonna durch das Leopold Museum geführt, und sie war begeistert, dass sich der Kerl ständig neu erfindet. Am Vormittag tritt er als Dandy vor den Spiegel, der Bursche mit Pfauenweste, der liebe Bub und eitle Geck, und am Nachmittag zieht er sich aus, verrenkt sich und macht etwas völlig anderes.

Er inszeniert sich in den Selbstporträts hohlwangig zwischen Genie und Wahnsinn.

Er ist oft völlig tabulos sich selbst gegenüber, ohne sich zu schonen und sich zu schönen. Aber immer – und das ist wesentlich – mit einem Blick auf das Publikum. Er weiß und er will, dass wir ihm zuschauen. Schiele ist der ganze Existenzialismus pur, aber nicht nur, sondern in einem pop-artigen Sinn, weil er auch damit spielt.

Wo beginnt das?

Bei einer Serie von Selbstbildnissen, die alle in einem Jahr entstehen. Einmal das hässliche Monster mit nur einem Zahn und dann wiederum als leidender Christus. Ein unglaublich reiches Werk in rund zehn Jahren, mit der unglaublichen Schönheit der Linien, der Kühnheit der Farbe und dieser performativen Inszenierung. Was hätte Schiele noch gemalt, wäre er nicht an der Spanischen Grippe gestorben?

Naja. 1918 fertigt er eine Vielzahl großformatiger Auftragsporträts alle in einem Schema an. Die haben nicht die Güte und die Qualität von vorher. Das war auch stets das Argument von Rudolf Leopold, der sagte: ,Im Belvedere hängt das anerkannte Zeug von 1918, aber die Werke der wilden Phase und des Durchbruchs 1910 habe ich.‘

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Tobias G. Natter (Hg.): Egon Schiele. Sämtliche Gemälde 1909–1918; 612 S., 578 Abbildungen, Taschen Verlag, 150 €