Der Mörder schickt Verse von Leonard Cohen
Von Peter Pisa
In "Der aufrechte Mann" hat der spannende Davide Longo ein Italien am Ende beschrieben.
Es wird geplündert, vergewaltigt, ermordet. Es gibt kein Geld, kein Benzin, kein Brot.
Die Grenzen sind zu.
Grenzsoldaten schießen.
Trotzdem bleibt noch Kultur im Land – nämlich ein Lied von Leonard Cohen, inmitten der Barbarei stimmt es jemand an.
In "Der Fall Bramard", Longos neuem Roman, erklingt neuerlich Leonard Cohen: Story of Isaac (auf YouTube live, Konzert in Warschau, 1985).
Der Vater, der seinen Sohn Gott opfern will.
"Ihr müsst das nicht mehr tun", singt Cohen.
Suppe kochen
Den Text bekommt Corso Bramard zugeschickt, alle paar Jahre einen Vers, zum 13. Mal schon, immer abgetippt auf einer alten Olivetti.
Es ist die Post vom unbekannt gebliebenen Mörder, der fünf Frauen entführt, ritualmäßig Linien in ihre Haut geritzt und sie hat verbluten lassen.
Das letzte Opfer war Corso Bramards französische Ehefrau Michelle.
Noch merkt man wahrscheinlich nicht, wie anders dieser Roman ist.
Er müsste ein Thriller sein, ist es aber nicht.
Es ist wieder – das ist dem piemontesischen Schriftsteller Longo sehr wichtig – ein Buch für Menschen geworden, die stundenlang Suppe kochen und gern spazieren gehen.
Schweigen wollen
Man kann ergänzen: ... und die gern mit Händen Geschirr abwaschen oder gern in einer Schlange im Supermarkt warten, um in Ruhe nachdenken zu können.
Bramard redet selten und denkt viel nach. Seit dem Tod seiner Frau vor 20 Jahren lebt er nicht mehr. Er liest viel und lutscht Lakritzzuckerln. Er klettert in den Alpen und hofft, abzustürzen.
Einst war er Kommissar in Turin. Dann war er Alkoholiker. Jetzt ist er Lehrer, Teilzeit, damit er wenigstens 600 Euro im Monat zur Verfügung hat. Manchmal spielt er Karten mit Freunden, die ebenso laut schweigen wollen wie er.
Eine Tochter hatte er auch. Wo ist die Tochter? Nichts erfährt man über sie. Weg ist sie.
Nur schön langsam ... für alles kommt die Zeit, und dann wird man von Martina hören.
Der Autor besteht darauf, dass man selbst die Geschwindigkeit reduziert. Man muss beim Lesen nicht gleich alles wissen.
Schauen wir uns lieber die Berge an. Sie sind schön. Der dunkle Held lebt im Hof der Eltern am Weitwanderweg GTA.
Tage riechen
Schauen wir uns Ohren an. Sie können schön sein.
Das ist es: Es geht im "Fall Bramard" immer um die Schönheit.
Schlafende junge Frauen können schön sein. Nobelpreisträger Kawabata hat darüber gedichtet.
Davide Longo vereint die japanische Ästhetik der Rauheit und Sparsamkeit mit der Kargheit piemontesischer Bergdörfer und verlorener Menschen. Das harmoniert aufs Traurigste.
Wenn man’s könnte: So wie er würde man gern schreiben.
"Es roch, wie die Tage riechen, die erschöpft am Abend ankommen" (= Davide Longo, leider er).
KURIER-Wertung: