Clemens J. Setz: Sein erster "richtiger" Roman
Von Peter Pisa
1000 Seiten ... aber Verwünschungen bleiben unverzüglich im Hals stecken.
Im Gegenteil, rasch gerät man aus dem Häuschen.
Erstens, weil die Behindertenbetreuerin Natalie so ... vielschichtig ist: Sie benimmt sich, als hätte sie eine weiße Maus auf der Schulter. Sie nimmt mit dem iPhone ihre eigenen Essgeräusche auf. Sie lässt gern Fremde in ihren Mund ejakulieren usw.
Zweitens erzählt der Grazer Clemens J. Setz 1001 Geschichten, die selten zusammenhängen. Non sequitur – das eine folgt nicht aufs andere, aber kurze Romane entstehen. Setz sieht, was andere nicht sehen: Schöne Ohren z.B. sind wie Klickschalter zu einer anderen Dimension.
Drittens spielen anfangs Bäume mit und haben nutzlose Äste wie Tyrannosaurus-Rex-Arme oder sagen hektisch das Fingeralphabet auf.
Und viertens, die Hauptsache: Im Rollstuhl sitzt der Herr Dorm, 30, er schminkt sich und schneidet Herzerln aus.
Das macht er für seinen Besucher, den Dr. Hollberg. Der kommt seit vier Jahren jede Woche zu ihm ins Heim.
Früher stalkte ihn der schwule Herr Dorm und terrorisierte Herr Dr. Hollbergs Ehefrau ... bis sie Selbstmord beging.
Und deshalb fährt Dr. Hollberg mit Dorm im Park spazieren und schenkt ihm ein Buch über UFOs?
Er will abschließen, sagt er. Nein, er sei nicht zu feige, um Dorm umzubringen ...
Clemens J. Setz erreicht in seinem vierten Roman erstmals die Balance zwischen dem Rätsel Mensch und einer sehr klar geschrieben Geschichte, wie es Haruki Murakami nur in seinen allerbesten Romanen zustande gebracht hat.
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KURIER: Was ist denn los? Wieso versteht man "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" so gut – obwohl man sich andauernd wundert? Und aufgeregt ist, erregt.
Clemens J. Setz: Ja, Sie haben recht. Nicht immer ist das Mysterium schwer verständlich. Manchmal liegt es einfach auf der Hand, wie eine linear erzählte Geschichte mit Anfang und Ende. Es ist möglich, dass dieser hier mein erster "richtiger" Roman ist.
Ist das ein Neubeginn, der mehr Angst bereitet als sonst?
Es ist fast zwei Jahre her, dass ich das Buch beendet habe. Inzwischen ist mein Kopf schon wieder voll von einer anderen Geschichte. Aber ich hab "Die Stunde..." seither einige Male gelesen und mochte es jedes Mal. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen. Es kann natürlich auch sein, dass es mir, was Reaktionen angeht, bald um die Ohren fliegt. Man weiß nie.
Die Idee, mehr als die Hälfte in einem Behindertenheim spielen zu lassen, hatten Sie einfach so? Oder durch private Besuche?
Ich war als Zivildiener, also vor etwa fünfzehn Jahren, im Betreuten Wohnheim des Odilien-Instituts angestellt. Die "Villa Koselbruch" im Roman hat gar nicht viel mit diesem Heim zu tun, aber es war meine erste Begegnung mit dieser Welt. Sie hat mich seither nie mehr losgelassen.
Halbwegs "normale" Menschen interessieren Sie als Schriftsteller überhaupt nicht?
Von normalen Menschen habe ich natürlich schon gehört. Es scheint sie zu geben. Aber ich kenne mich mit ihnen halt nicht aus.
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Manchmal hat man ein Gefühl, das beschreibt Setz mit "blau und sehr zwirn". Stimmt!
... und weil Clemens J. Setz sonst nichts zu tun hat, erzählt er einige der 95 mittelalterlichen Schwänke Till Eulenspiegels nach.
Das haben auch andere getan – man denke an Erich Kästner, 1938. Aber immer wurden kindgerechte Späße ausgesucht, immer legte es sich Eulenspiegel dabei mit den Mächtigen an und stellte sie bloß, und das war gut so.
Man kann – indem man gleichzeitig für das Wort um Verzeihung bittet – von einem richtigen Arschloch sprechen.
Setz sieht das nicht anders, teilt andererseits aber auch die Ansicht: Till Eulenspiegel sei die freieste Figur der deutschen Literatur. Vollkommen sei die Freiheit, nackt und nur einen Wimpernschlag vom Chaos entfernt.
(Selbst als Till Eulenspiegel sterbenskrank ist, sagteer zu einer alten Nonne, die ihn betreut: Er wünsche sich so sehr, dass man allen alten Frauen die ... Hinterteile zusammen nähe.)