Kultur

Clemens J. Setz: Krank ist spannend

Vielleicht Stifter. Jedenfalls empfiehlt Clemens J. Setz im KURIER-Gespräch: Falls man das Gefühl habe, "draußen vor den Toren des Romans stehen gelassen zu werden", möge man Stifters "Die Mappe meines Urgroßvaters" lesen. Er selbst habe dieses Buch erst jetzt für sich entdeckt – "die seitenlange Beschreibung der im Frost umgebrochenen Bäume, ein Wahnsinn!"

Im neuen Roman des Grazers "Indigo" ist ein bissl mehr los, und bestimmt bleibt man nicht vor den Toren stehen. Sofort ziehen einen die Kinder hinein. Sie machen krank. Das ist spannend.

Wollknäuel

Wohl aber kann es passieren, dass sich nach der 480 Seiten langen Verführung bzw. Entführung "Indigo" verabschiedet, und man steht mit offenem Mund da, noch immer rätselnd, ob man die vielen Einzelteile im Kopf richtig zusammengesetzt hat.

Aber das stört nicht. Das Rätsel ist es, worauf’s ankommt. Man sammelt Faden um Faden, manche (nicht alle) hängen zusammen, am Ende hat man einen Wollknäuel zum Spielen fürs Gehirn. So arbeitet Setz seit dem ersten Roman "Söhne und Planeten".

... und was einst Franz Kafka von einem Buch gefordert hat, dass es nämlich die Axt sei für das gefrorene Eis in uns – hier geschieht das. Man spürt sich und andere. Man ist in der Lage, mitzufühlen: mit gequälten Tieren, gequälten Menschen, Einsamen, Fremden.

Überfordert

"Indigo" geht bis ins Jahr 2021. Spätestens dann ist die Welt ein so kranker Ort, dass im Fernsehen Gameshows mit Behinderten laufen – Blinde vs. Rollstuhlfahrer zum Beispiel. Der Roman beginnt früher, jetzt, und man erfährt rasch: Es gibt ansteckende Kinder – das heißt: Kommt man in ihre Nähe, wird einem übel, der Kopf schmerzt, man bricht zusammen. Indigo-Kinder, als "Dingos" beschimpft oder als "septische Schweine".

In einem Internat am Semmering werden sie unterrichtet (mit Megafon), und dort heuert ein junger Mathelehrer an. Er heißt Clemens Setz. Er heißt deshalb Clemens Setz, "weil er genauso überfordert ist wie ich. Da wollte ich ehrlich sein", so Clemens J. Setz, der Echte.

Der Lehrer beobachtet, wie Schüler, die nicht mehr tragbar sind, weggeschafft werden. Ein Mann im Kostüm eines Rauchfangkehrers erledigt das. Es heißt, die Betroffenen werden "deloziert". Wohin kommen sie? Unter die Erde? Sind dort auch jene Männer versteckt, die Zigaretten holen wollten und verschwanden? Tolle Frage! Das versucht der Lehrer zu ergründen. Er dreht ziemlich durch während der Ermittlungen, und als Leser erstarrt man sowieso. Nicht nur, als man hört: Er habe einem Hunde-Folterer die Haut abgezogen. Erklärungen, denen Lehrer Setz näherkommt, werden vom Autor Setz abgewürgt. Es soll düster bleiben. Comic-artig düster. Das gelingt auch mithilfe von vielen Tieren: Ein Rhesusäffchen, das für die Forschung gekreuzigt wurde, mit Drähten zwischen den Schädelknochen (wahre Geschichte aus der Sowjetunion) usw.

Zur Ablenkung wird aus Star Trek zitiert und Elfriede Jelinek, manche Zitate sind echt, manche erfunden; beide Setz’ kümmern sich um Spinnweben in einer Gießkanne; und es stehen eigenwillige Sätze bzw. Vergleiche, die man nach dem Konsum früherer Bücher des Steirers fast (!) lieb gewonnen hat: "Der Engel der Selbstbeherrschung trägt eine Bankräubersocke über dem Gesicht."

Auch ist bei ihm der Himmel so blau, "dass man eine Stecknadel darin hätte fallen hören." Und der Sonnenschein trägt Bartstoppel ... aber das ist heiter und schön und lenkt ein bissl ab von der großen Gewalt.

Irgendwann (steht im Buch) gewöhnt man sich GEGEN alles. Stimmt genau. "Durch meine Anwesenheit könnte die Gesundheit anderer leiden ..." Diese Vorstellung beschäftigte Clemens J. Setz schon in jungen Jahren. Nach Tschernobyl wurde sein Bild breiter: Eine Krankheit mit unsichtbarer Wirkung, wie Strahlen.

Den Begriff "Indigo-Kinder" findet man in der Esoterik. Kinder mit blauer Aura. Spirituelle Kinder, sensible, erhabene, weise Kinder, die gleichsam den Neuen Menschen verkörpern sollen. Die Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit ihnen.

Clemens J. Setz nahm den Namen auf und änderte angebliche Eigenschaften. Einen erwachsenen "Indigo", der sich "ausgebrannt" hat (= er verlor die Wirkung), stellt er als aggressiv dar: Eine Naturkatastrophe wünscht sich der, etwas muss er kaputtmachen, um sich zu beruhigen. Was allerdings bei seiner Vorgeschichte nicht verwundert.

Eisenbahn

Nur ein bisschen möchte man den Autor zurückhalten. Seine Konstruktionen sind gewagt und abenteuerlich gut. Bloß werden sie hoch und höher und könnten einmal umfallen. Setz vergleicht, was beim Entwerfen einer Geschichte in seinem Kopf vorgeht, mit einem Eisenbahnunglück: Alle Waggons liegen durcheinander, und er ordne sie, bringe sie auf Schiene, damit der Zug fahrbereit werde. Er könnte zusätzlich ab und zu seinen Passagieren ein Glas Wasser bringen.