Kultur

Nöstlingers Kindheit: Kriegsende als Filmabenteuer

Im Jänner 2012 wurde im Rabenhof eine "tragikomische Elektronikoper" von Wolfgang Schlögl, Mastermind der Sofa Surfers, uraufgeführt: Sie basierte auf Christine Nöstlingers Gedichtband "Iba de gaunz oamen Leit".

Die Filmregisseurin Mirjam Unger sah die geglückte Produktion, weil – neben Ursula Strauss, Christian Dolezal und Ingrid Burkhard – ihr Mann Gerald Votava mitwirkte. Fortan war sie von der Idee beseelt, mit diesem Team Nöstlingers "Maikäfer, flieg!" umzusetzen.

In diesem stark autobiografischen Roman erzählt ein achtjähriges, unerschrockenes Mädchen namens Christl die Ereignisse des Jahres 1945 in Wien: Wie ihre Familie gegen Ende des Krieges in Hernals ausgebombt wird und in der Neuwaldegger Villa einer Nationalsozialistin namens Braun, die sich nach Tirol abgesetzt hatte, Unterschlupf findet. Dort ereignen sich viele spannende Szenen, die allein schon deshalb unheimlich sind, weil Christine Nöstlinger die Ereignisse aus Sicht des Kindes berichtet, das nur über die von den Eltern aufgeschnappten Informationen verfügt.

Dominant ist zunächst die Angst vor den Nationalsozialisten, weil der Vater, als Soldat schwer verwundet, desertierte und sich nun am Dachboden versteckt hält. Natürlich tauchen SS-Soldaten auf – und die Kinder stehlen ihnen nebenbei Zigaretten. Danach wächst die Furcht vor den Russen und der Stalinorgel, einer "Riesenkanone" mit "mehr als hundert Kanonenrohren vorn dran", aus denen angeblich "fürchterliche Kugeln" kommen. Und dann okkupiert auch noch ein Major die Villa, im Lusthaus wird die Feldküche der Besatzer eingerichtet.

Mirjam Unger, die zuletzt u.a. mit der Doku "Oh Yeah, She performs!" Musikerinnen wie Gustav und Clara Luzia porträtierte, schrieb zusammen mit Sandra Bohle das Drehbuch: Christine Nöstlinger ließ "den Jungen" vollkommen freie Hand bei der Umsetzung.

Erdäpfel, Erdäpfel

Der kindliche Hauptsatzstil fiel bei der Bearbeitung weg, da es keine Erzählerin aus dem Off gibt. "Wir haben aber versucht, Nöstlingers Bilder umzusetzen", erklärt Mirjam Unger im Gespräch mit dem KURIER. "Und wir halten uns stark an die Dialoge im Buch." Etliche Erlebnisse musste Unger weglassen, zum Beispiel die sehr plastisch beschriebene Plünderung des NSV-Heims in der Atariastraße, wo die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Unmengen an Lebensmitteln – Nudeln, Erbsen, Zucker, Zwiebel – hortete, während die Bevölkerung nichts anderes als Kartoffeln in allen Variationen (Erdäpfelpuffer, Erdäpfelgulasch, Dill-Erdäpfel usw.) zu essen hatte: "Das mussten wir leider auf einen Satz reduzieren", erzählt Unger: "Die Mutter kommt mit Lebensmittel heim und sagt, dass sie geplündert hat." Sehr wohl aber gibt es die Szene, in der die Kinder in den Vorratskeller der verlassenen Nazibonzen-Villa nebenan eindringen und jede Menge eingelegter Köstlichkeiten klauen.

Mirjam Unger konnte Gabriele Kranzelbinder als Produzentin gewinnen – und diese stellte 3,4 Millionen Euro auf. Weil rund 800.000 Euro aus Italien kommen, fand der Großteil der Dreharbeiten in den letzten fünf Wochen in Südtirol statt: bei Meran, in Innichen und Sterzing.

Christls liebevoller Vater wird von Gerald Votava verkörpert, der im Vorjahr – auch in Hinblick auf die Rolle – respektable 30 Kilo abnahm. Diät halten musste auch die ohnedies schlanke Strauss, um als ausgezehrte Mutter plausibel zu wirken.

Schwerer Autounfall

Am 11. September – seit den Terroranschlägen 2001 ein belastetes Datum – des Vorjahres wurde Ursula Strauss Opfer eines schweren Autounfalls: Sie fiel für drei Monate aus. Die Rolle der Reporterin in "Jack" über den Mörder, Don Juan und Schriftsteller Jack Unterweger übernahm daher Birgit Minichmayr. Und die Dreharbeiten für die neue Folge der Krimiserie "Schnell ermittelt" mit Ursula Strauss als Angelika Schnell mussten heuer im Frühjahr nachgeholt werden.

Doch nun erinnert – außer einer winzigen Narbe auf der gebrochenen Nase – nichts mehr an den Unfall: Strauss, die Präsidentin der Akademie des österreichischen Films, haut sich mit großem Eifer in jede Menge neuer Projekte. Derzeit verkörpert sie in der Familiengeschichte "Pregau" (Regie: Nils Willbrandt) eine mondäne Frau, im Anschluss daran dreht sie "Die Stille danach" (Regie: Nikolaus Leytner). Das werde "heftig". Denn sie spiele die Mutter eines amoklaufenden Jugendlichen.

Angst vor den Russen

Die Dreharbeiten in Südtirol seien, erzählt Strauss, berührend gewesen. Ihre Mutter hätte sie am Set besucht und die Szene verfolgt, in der ein russischer Soldat der Christl über den Kopf streicht. "Meiner Mutter kamen die Tränen. Denn ihr ist damals in Niederösterreich das Gleiche passiert. Die Angst vor den Russen war riesengroß, sie hat aber keine schlechten Erfahrungen gemacht."

Anfang dieser Woche übersiedelte der Tross zurück nach Wien. Am Samstag fällt, wie man so sagt, die letzte Klappe – in Klosterneuburg. Da wird eine Szene vor dem ausgebombten Wohnhaus in Hernals gedreht.

Alle Inhalte anzeigen
Außenaufnahmen entstanden auch am Mittwoch, und zwar auf dem ehemaligen Fabriksgelände von Julius Meinl in Ottakring, einer weitläufigen G’stättn. Christl lässt sich von Cohn, dem Koch, der ihr Freund geworden ist, mit dem Pferdefuhrwerk zum Großvater nach Hernals bringen.

Die roten Schuhe von Zita Gaier, einem bezaubernden Mädchen, das erstmals vor der Kamera steht, sind so, wie im Roman beschrieben: Damit sie passen, wurden die Kappen weggeschnitten. Cohn, der Koch, hingegen hat keine Gemeinsamkeit mit der Vorlage: Im Roman wird er als sehr klein, mit kugelrundem Bauch, Spiegelglatze, dünnen Armen, gebogenen Beinen, gelber Haut, verfaulten Zähnen und abstehenden Ohren beschrieben. Konstantin Khabensky ist aber ein groß gewachsener, athletischer Mann. "Macht nix, macht nix!" könnte man sagen – wie denn auch der Stehsatz des Kochs lautet.

Eine Notlösung

Ziemlich anders ist auch der lange Hatscher hinaus nach Neuwaldegg: Die Familie flieht durch die Kanalisation. "Eine Notlösung", gesteht Mirjam Unger ein. "Wir hatten nicht das Geld, um das zerbombte Wien im Hollywood-Stil zu zeigen. Unter der Erde schaut es zum Glück noch so aus wie in den 1940er-Jahren." Und die Abänderung ist sogar plausibel. Denn Bomben hatten das Gewölbe der unterirdisch laufenden Als durchschlagen, entlang der die Familie lief. Zudem zitiert Unger mit einem Augenzwinkern den Klassiker "Der dritte Mann".

Ins Kino kommen wird "Maikäfer, flieg!" wohl erst in einem Jahr – anlässlich Nöstlingers 80. Geburtstag am 13. Oktober 2016.