Werner Herzog: Die Visionen kamen mit dem losen Faden im Bett
Von Peter Pisa
Vielleicht ist es ja das: Man widmet sich zunächst ausführlich einem losen Faden und hat gesunde Visionen, bevor die großen Dinge im Leben zu bewältigen sind.
Das Kind lag im Krankenhaus, ein Faden hing aus dem Saum der Bettdecke. Eine Woche beschäftigte es sich mit diesem Faden.
„Das war eine Offenbarung“, sagt das mittlerweile 79-jährige Kind. (Am 5. September wird es 80.)
„Die Zeit war sehr aufregend.“
Punktschweißen
Nicht viel später wusste Werner Herzog: „Ich habe Filme zu machen.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte er nur „Zorro“ gesehen und „Fu Manchu“. Eine Produktionsfirma, der er schrieb, interessierte sich für seine Idee. Er wurde eingeladen – und ausgelacht, als er zum Treffen kam, ein jünger aussehender 15-jähriger.
Da hat der Münchner seine eigene Firma gegründet. Mit Geld, das er als Punktschweißer verdiente. In der Schule schlief er.
Film- und Opernregisseur (und Schauspieler) Werner Herzog ist ein Geschichtenerzähler.
Das sah man im Kino, als er – die berühmten Beispiele – mit Aguirre und Fitzcarraldo (mit dem über einen Berg geschleppten Dampfschiff) zwei entrückte Helden gefunden hatte, um die Sinnhaftigkeit / die Sinnlosigkeit des Lebens darzustellen.
Das las man zuletzt in Herzogs Roman über den japanischen Soldaten Onoda, der sich erst 29 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs ergeben hatte (= „Das Dämmern der Welt“).
Ein Geschichtenerzähler, sodass auch die Erinnerungen bunt sind. Wortfilme über Hochseilakte, aber nicht angeberisch, sondern reduziert – nach dem Motto: Es musste halt so sein.
Auch Klaus Kinski musste so sein. Freund und Feind. Er kommt im Buch überraschend selten vor.
Liebenswürdig zu Filmpartnerin Claudia Cardinale. Aber Nächte durchschreiend, aus Zorn über fast alles, sodass ihn nicht allein Herzog erschießen wollte.
Die Erinnerungen an Eltern, an Fußballspiele, Knochenbrüche, Frauen, Hypnose, Filme (ja, auch Filme) ... sie haben den Titel „Jeder für sich und Gott gegen alle“. So hieß auch Herzogs Film über den im Kellerloch eingesperrten Kaspar Hauser. „Es war fast niemand in der Lage, den Titel korrekt wiederzugeben. Ich mache hier einen zweiten Versuch.“
Von Werner Herzog kann man Gehen lernen. Gehen fast ohne Gepäck. Er machte das oft, über die Alpen, nach Paris ... Dann ist man gezwungen, mit Leuten zu reden. Die Gastfreundschaft war fast immer groß. Fand er für die Nacht ausnahmsweise kein Quartier, sperrte er ein leeres Ferienhäuschen auf – zwei Stahlfedern fürs Sicherheitsschloss hatte er dabei (und eine Zahnbürste).
Als Dankeschön ließ er eine kurze Notiz zurück.
Oder ein von ihm gelöstes Kreuzworträtsel.
(Bild oben) Mehrere wollten ihn erschießen: Klaus Kinski brachte in „Fitzcarraldo“ Caruso in den Dschungel
Werner
Herzog: „Jeder für sich und Gott gegen alle“
Hanser Verlag.
352 Seiten.
29,50 Euro
KURIER-Wertung: ****