Kultur/Buch

Wegen "Die Nächte der Pest" muss Orhan Pamuk wieder vor Gericht

Orhan Pamuk täuscht einen historischen Roman vor: Wenig stimmt.

Aber es hat alles seine Richtigkeit.

„Die Nächte der Pest“ ist das Buch über eine Pandemie um 1900 auf der – fiktiven – Insel Minger, die zum Osmanischen Reich gehört. Ein Buch, wie Christen und Muslime auf Pestbeulen und Quarantäne reagieren.

Das Kreuzzeichen wird doch Schutz genug sein!

Die Moschee ist doch das beste Krankenhaus!

„Die Nächte der Pest“ ist darüber hinaus ein Krimi mit einem zu Tode Gefolterten (der von Sultan Abdülhamit gesandte Chefhygieniker) und einem Vergifteten (dessen Assistent). Derartiges macht Pamuk gern. Für jene, die eine Stütze brauchen, sonst wagen sie sich nicht in sein Buch.

Kâmil und Kemal

Als es im Sommer 2021 in der Türkei in die Buchhandlungen gekommen ist, geschah Folgendes: Ein Anwalt aus Izmir behauptete, mit der Figur des – übrigens heldenhaften – Major Kâmil sei, wegen der Namensähnlichkeit, Mustafa Kemal Atatürk gemeint, der Gründer der Türkei.

Atatürk werde verspottet – noch dazu schwenkt er ein Stück Stoff mit dem Zeichen einer griechischen (also christlichen) Apotheke. Ein Affront gegenüber der türkischen Fahne?

„Will Pamuk damit einen Aufruhr anzetteln?“, fragte der Chefredakteur der Erdoğan-treuen Zeitung Hürriyet allen Ernstes.

Die Anzeige war selbst der Staatsanwaltschaft in Istanbul zu dumm. Aber der Oberste Gerichtshof verlangt den Prozess gegen Orhan Pamuk. Wieder einmal ...

Ein gewohnt dichter Roman ist es geworden. Bissl einbremsen könnte sich der heute 69-Jährige. Wegen des Umfangs neigt man beim Lesen dazu, trotz der vielen Schönheit aufzustöhnen.

Drei verliebte Paare werden beobachtet. Das Ende des Weltreichs und ein Neubeginn werden angekündigt – die osmanische Insel wird zur Republik.

Wie Gift wird das Gerücht gestreut, ein Ausländer habe infizierte Ratten auf Minger verteilt.

Und Pestopfer werden versteckt, weil Familien befürchten, dass ihr Haus behördlich verschlossen wird und Händler ihre vielleicht ansteckenden Waren nicht verkaufen dürfen.

Erst 40 Jahre vorher waren von Louis Pasteur die Keime erforscht worden. Noch wusste man nichts von der Übertragung durch den Biss verseuchter Flöhe ...

Der Roman ist neuerlich ein Beweis, dass Orhan Pamuk nach dem Nobelpreis 2006 die Nobelpreis-Höchstform erreichte.

Als die Corona-Pandemie ausbrach, schrieb er 80 Prozent des schon fertigen Manuskripts um: Es sollte mehr Angst vor der Pest zum Ausdruck gebracht werden. Gelungen. Der Prozess gegen Pamuk macht allerdings schon genug Angst.


Orhan Pamuk: „Die Nächte
der Pest“
Übersetzt von
Gerhard Meier.
Hanser Verlag.
696 Seiten.
30,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern