Die alte Frau im Affenbrotbaum erzählt wieder ihr Leben
Von Peter Pisa
Der italienische Schriftsteller Italo Calvino schickte seinen Baron 1957 auf die Bäume: Der Adelige war jung und wollte keine Schneckensuppe essen, deshalb stieg er hinauf und blieb dort 50 Jahre. Er lebte und liebte, er kommunizierte mit Philosophen, er kämpfte mit Piraten, aber alles oben.
Der größte kommerzielle Erfolg Calvinos. Ein unvergesslicher Stoff.
In Südafrika hatte es Jahre später Wilma Stockenström (Foto oben) viel schwieriger, wahrgenommen zu werden. In ihrem Roman zog sich eine alte Frau auf einen Baum zurück – nein, IN einen Baum.
Elefanten
Stockenström schrieb in Afrikaans. Erst als ihr Landsmann, der spätere Nobelpreisträger J.M. Coetzee „Die Kremetartekspedisie“ 1983 ins Englische übersetzte, konnte „The expedition to the baobab tree“ weltweit gelesen (und gelobt) werden.
Auf Deutsch ist das Buch nach jahrzehntelanger Abwesenheit zugänglich: „Der siebte Sinn ist der Schlaf“ heißt es in der Übersetzung – die Frau im Affenbrotbaum schläft viel. Sie hat genug erlebt. Sie träumt lieber.
In die Ewigkeit ist sie gegangen: Affenbrotbäume können 1.000 Jahre alt werden und sind Symbol fürs Ewige.
So ein Baumriese speichert unter der Rinde Wasser. Elefanten reißen die Rinde deshalb auf und machen Riesenlöcher in den Stamm, in denen man sich verstecken kann.
Die Frau im Baum redet über ihr Leben. Ein Leben in Sklaverei. Wenn Wilma Stockenström sie zurückreisen lässt, kann man gut sich vorstellen, wie sie der Alten liebevoll den Arm auf die Schulter legt.
Wilhelmina „Wilma“ Stockenström: Manchmal arbeitete sie als Rundfunksprecherin, oft als Schauspielerin im Theater und im TV, immer war sie eine Dichterin gegen Gewalt und Intoleranz.
Man staunt, wie die heute 86-Jährige von Südafrika erzählen kann, ohne über Südafrika zu schreiben.
Man bewundert, wie sie lyrisch und dramatisch und episch zugleich ist.
Wie Wasser fließt die Erinnerung: Wie die Frau im Baum als Mädchen geraubt und an einen Weißen verkauft wurde, der nur am Entjungfern Interesse hatte. Wie sie weitergegeben wurde, wieder weitergegeben, Kinder bekam ... Wo sind sie? Würden sie mich erkennen? Geliebt wurde sie auch von einem ihrer Besitzer, der ihr einen Armreifen schenkte. Als er starb, flüchtete sie in den Affenbrotbaum.
Jetzt hat sie nichts mehr, aber Würde und Humor. Und ein paar Straußeneiersplitter und Tonscherben hat sie auch noch, die sie an früher denken lässt.
Sie ist nur noch.
Sie ist nur noch Sprache. Sie ist auf Gedankenreise, bis sie sagt: „Ich sehne mich nach nichts mehr.“
Dann trinkt sie Krokodilhirn und verstummt.
Wilma
Stockenström: „Der siebte Sinn ist der Schlaf“
Übersetzt von Renate
Stendhal.
Wagenbach Verlag. 160 Seiten. 18,50 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern