Kultur/Buch

Der vergessene Roman über die Kulturvernichter

Gestern haben sie die National Gallery in London ausgeräumt.

Heute kommen sie – man hört sie nicht, sie tragen keine Schuhe – ins Haus und nehmen alle Bücher mit.

Morgen werden sämtliche Noten, die sie finden, eingezogen und vernichtet.

Wer trotzdem malt, wird geblendet, damit er nichts mehr sehen kann. Wer trotzdem Bücher schreibt oder auch nur Briefe, dem werden die Hände abgehackt. Wer weiterhin musiziert, wird taub geschlagen.

Denn „sie“ wollen keine Kreativen.

Nicht angepasst

Als Kay Dicks Roman „Sie“ (They) 1977 erschien, wurde er ignoriert. Dick war zwar fest in Londons Literaturszene verankert, sie schrieb für die Times und für Punch.

Aber mit dieser Abfolge von Unbehagen wollte damals niemand etwas zu tun haben.

Heute, 20 Jahre nach Kay Dicks Tod, wird das Buch weltweit gefeiert. Erstmals wurde es ins Deutsche übersetzt. Am Beginn verbeugt sich Kay Dick vor Ray Bradburys „Fahrenheit 451“: Ein Bub lernt Romane auswendig, man bemüht sich, nichts zu vergessen.

Insgesamt sind es neun Teile, neun Kurzgeschichten, die miteinander verbunden sind,

Kay Dick - Foto oben - lebte Jahrzehnte mit einer anderen Schriftstellerin zusammen. Sie trug Monokel. Sie rauchte auffällig lange Zigaretten. Angepasst war diese Frau nicht ... und auf Nichtangepasste machen „sie“ Jagd. Selbst wer allein lebt, gilt als Bedrohung.

Zerdrückt

Wer „sie“ sind, bleibt rätselhaft. Das wirkt. Sie hassen Freiheiten wie schwimmen. Beton lieben sie, auf Parkplätzen treffen sie sich gern. Viel mehr erfährt man nicht über sie.

Es sind Banden. Aber es ist durchaus möglich, dass die bisher unauffällige Nachbarin zu ihnen gehört: Sie bewundert den Garten der – namenlosen – Erzählerin im Roman. Gern lässt sie sich eine schöne Rose schenken.

Und zerdrückt die Blütenblätter und lässt sie zu Boden fallen, böse lächelnd.

Der Horror steigert sich, ein Gedicht der Wienerin Sophie Reyer drückt in noch wenigeren Worten aus, wohin es führt ...

am Ende:

wortlos

entsorgen wir

das Ich

Am Ende ist sogar die Liebe verboten, als asozial: Denn dafür ist Kommunikation notwendig, und Kommunikation könnte für „sie“ gefährlich sein.

Noch schlimmer als die Liebe ist, wenn man wegen einer verlorenen Liebe trauert. Das ist ein Strafdelikt, und es gibt fensterlose Türme im Land – wenn man von dort wieder hinaus darf, ist man ein anderer Mensch. Nämlich kein Mensch mehr.

Was soll man tun bei den Unkultivierten, den gewalttätigen Kulturbanausen, bei Zensur und Terror? Dagegenhalten. Weitermachen. „Für immer und ewig“, antwortet ein Künstler.

Denn, das ist der letzte Satz im Buch (und im Nachwort; und hier noch einmal) „es wird immer jemanden geben, der zuhört, hinschaut, wahrnimmt.“

 

Kay Dick:
„Sie“
Nachwort von Eva Menasse.
Übersetzt von
Kathrin Razum.
Hoffmann und Campe.
160 Seiten.
16,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern