Kultur/Buch

Auf politische „Lektionen“ hätte Ian McEwan verzichten können

Roland fragt sich im Alter:

Gab es irgendetwas in meinem Leben, das nicht hätte geschehen sollen? Er hat keine Antwort parat.

Das Leben hat Roland Gaines, wie man so sagt, einige Lektionen erteilt.

Oder: Ian McEwan hat Roland „Lektionen“ – während er in den Lockdowns viel Zeit dafür hatte – auf den Leib geschrieben.

Hingegen soll sein 18. Roman für Leser keine Lehrstunde sein.

McEwan, wie Roland 74 Jahre alt, schreibt auf Seite 707: „Es wäre schade, eine gute Geschichte zu ruinieren, indem man sie in eine Lektion verwandelt.“

Schreiben passiert ihm. Er hält sich nicht an Essayistin Joan Didion, die durchs Schreiben gemerkt hat, was sie denkt. McEwan lässt sich treiben und alles offen.

Ins Private

Der Brite überrascht wieder. Zuletzt machte er Science-Fiction („Maschinen wie ich“) und eine Brexit-Satire („Die Kakerlake“).

Kritisiert wurde, er habe dabei das Literarische vernachlässigt. In „Lektionen“ ist das nicht so auffällig. McEwan verwendet dafür Autobiografisches – Kindheit, Eltern, Internat.

Roland Gaines war 37, als sich seine Ehefrau aus dem Staub machte. Sie fühlte sich im falschen Leben (und wurde dann Jahre später eine berühmte Schriftstellerin).

Er blieb mit dem sieben Monate alten Lawrence allein zurück. Ohne Job, denn immer wollte er frei sein, Künstler, Dichter, Musiker.

McEwan zeigt von den 1950ern bis heute das Schicksal der Welt und Rolands Schicksal. Wie Suezkrise, Kubakrise, Tschernobyl, Thatcher, Gorbatschow, Fall der Berliner Mauer und zuletzt Corona ins Private reichen. (Schön eingearbeitet sind die historischen Lektionen nicht.)

Wie unmöglich es ist, über das Leben Kontrolle zu bewahren. Wie „Zufälle“ helfen können. Oder schaden.

Roland erinnert sich. Besonders an seine Klavierlehrerin, die ihn verführt / missbraucht hat, als er 14 war. War das schlecht für ihn?

Im Chaos der widersprüchlichen Urteile wird Roland die nun alte Dame nach vier Jahrzehnten zur Rede stellen.

Er wird auch seine Ex treffen, und sie wird ihm sagen, wie sehr er ihr Luft zum Atmen genommen hat.

Darf man gar nichts mitnehmen? Bleibt etwas zurück von McEwans Roman?

Ja. Dass er zu lang ist.

Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ ist trotz schrecklicherer Lektionen für einen Seilbahnarbeiter in den Bergen viel kürzer, und auch dieser Wiener Schriftsteller hat für die Leser keine Unterrichtsstunden abgehalten.

Aber wie eine Berührung, eine flüchtige Berührung nur, ein armseliges Leben rettet, das hält man fest, seit Seethalers Buch 2014 erschienen ist.

Ganz fest hält man es.


Ian McEwan:
„Lektionen“
Übersetzt von Bernhard
Robben.
Diogenes Verlag.
720 Seiten.
33,50 Euro

KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern