Kultur/Buch

Anna Kim: Höchstwertung für das Protokoll des Irrsinns

Als die Wienerin Anna Kim (Foto oben) in den USA war, in der Stadt Green Bay, Wisconsin, auf Einladung einer Universität, wurde ihr – wie sie sagt – eine Geschichte geschenkt.

Sie hat von Danny erfahren – „Geschichte eines Kindes“ beginnt im Juli 1952 im christlichen Spital St. Mary, als Danny geboren und von seiner Mutter Carol zur Adoption freigegeben wird.

Alarm im Spital: Danny wird von Tag zu Tag dunkelhäutiger. Da hat seine Mutter etwas verheimlicht! Green Bay war eine weiße Stadt. Ist Danny indianisch? Afrikanisch? Carol, 20 Jahre alt, verrät den Vater nicht.

Haken

Damals wurde das Wort „Rasse“ bei Menschen ganz selbstverständlich verwendet. Macht es einen großen Unterschied, wenn das Wort heute nicht gesagt, aber gedacht wird?

Wenn die Idee bleibt?

Das ist einer der Haken, die Anna Kim auswirft. Man hängt daran, auch wenn man mit dem Buch längst fertig ist. Man hängt mit offenem Mund.

Es ist der beste österreichische Roman des Jahres – gemeinsam auf dem Podest mit Reinhard Kaiser-Mühleckers „Wilderer“ (aus dem S. Fischer Verlag).

Was die mit Dannys „Fall“ betraute Sozialarbeiterin aufführte, ist aktenkundig. Die Frau – eine ausgewanderte Hietzingerin – scheint meist unter der Abkürzung MW auf.

Das Persönliche wird im Roman nicht weggesperrt: dass Anna Kim ihrer südkoreanischen Mutter ähnlich sieht, aber ganz und gar Wienerin ist, macht Probleme.

Wieder so ein Haken.

Vor allem aber wird der Irrsinn aus Green Bay protokolliert, und zwar mit dem Wortschatz der Vergangenheit: Wörter wie „Neger“ müssen vorkommen, damit alle Schmerzen verspüren, hoffentlich.

Obwohl sich Pflegeeltern melden, denen die Farbe herzlich egal ist, gibt MW Danny nicht her. Sie will zuerst unbedingt den Vater ausfindig machen. Ein Jazzmusiker wird verdächtigt.

Der Mutter wird nachspioniert, die Polizei eingeschaltet, junge Männer, die Carol kennen, werden befragt ... Bis sie ihren Job verliert und ihren Verlobten und sterben will. Nun erst wird FW gefeuert.

Danny ist zwei Jahre lang katalogisiert worden, dicke Lippen, breite Nase. Schon zwei Monaten nach Geburt hat ein Psychologe seinen IQ gemessen, überdurchschnittliche 120. Weil er im Monat danach 118 hatte, hieß es, er müsse „negroid“ sein: Bei Schwarzen sinke der IQ.

MW kehrte nach Wien zurück.

Menschenvermessen hat in Österreich Tradition. MW war, bevor sie in die USA ging, sehr daran interessiert gewesen.

Wie vermisst man Menschen? Zur Feststellung der Schädelkapazität, um Europäer mit Afrikanern zu vergleichen, wurden Senfkörner verwendet, die man mittels Trichter einfüllte ...

 

Anna Kim:
„Geschichte eines Kindes“
Suhrkamp
Verlag.
220 Seiten.
24,50 Euro
Erscheint am Montag, 15. August 2022

KURIER-Wertung: *****