Kultur

Berlin Alexanderplatz - Von Alfred Döblin

Franz Biberkopf, der Protagonist des Romans, wurde zu einer literarischen Figur ersten Ranges. Nicht so berühmt wie Don Quijote oder Sherlock Holmes, aber ebenso lebendig. Seine Zeit sind die Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. "Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei." Dieser erste Satz des Romans macht Franz’ Vorgeschichte und Hoffnungen deutlich: Er verbrachte im Berliner Gefängnis Tegel vier Jahre wegen Totschlags an seiner Freundin Ida, und jetzt steht er draußen. Um die dreißig, einer, der als Möbelpacker genauso gearbeitet hatte wie als Zuhälter. Er weiß: Niemals möchte er ins Gefängnis zurück. Franz will das Gesetz achten, nur noch das Rechte tun. Biberkopf ist kein schlechter Mensch, er will ja arbeiten und ein geachteter Mitbürger werden. Aber – es geht nicht. Das Berlin der Zwanziger Jahre, es stellt ihm ein Bein nach dem anderen. Das Gewimmel der Großstadt übermannt ihn, getrieben kehrt er an den Ort seiner Tat zurück, findet dort Idas Schwester Minna und fällt, von unterdrückten sexuellen Trieben gesteuert, über sie her.

Danach versucht er, den Kontakt mit ihr aufrecht zu erhalten, sucht und findet für einige Wochen "ehrliche Arbeit" und besucht Kneipen, in denen – mitunter heftige – Diskussionen über die politischen Ereignisse nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stattfinden. Die politische Haltung des (naiven) Kriegsveteranen Biberkopf mutiert vom "Linken" zum im Grunde kleinbürgerlichen "Rechten". Er gerät an Reinhold, den Kopf einer Verbrecherbande, lässt sich auf Mädchenhandel ein. Aber Biberkopf will ehrlich bleiben, will sich lossagen von Reinhold, der ihn deshalb vor ein Auto stößt. Der Ex-Häftling wird zum Krüppel, sein rechter Arm amputiert. So geht’s weiter mit diesem modernen Hiob: Gewalt und Sehnsucht nach einem guten Leben bestimmen Biberkopfs Weg. Der endet in den Trommeln des sich abzeichnenden Zweiten Weltkrieges. Alfred Döblin schildert seine Romanfigur nicht gerade freundlich: Zwar ist Biberkopf treu, naiv, gutmütig und rappelt sich tapfer immer wieder auf, aber er ist auch ein Säufer und Angeber, der leicht die Beherrschung verliert. Biberkopf ist eine tragische Gestalt, die sich in der Großstadt Berlin und seinen eigenen Gefühlen verirrt.

 

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Dennoch gilt er als sympathischer Antiheld, als ein Mensch, der zwar aus der Arbeiterklasse stammt, aber deshalb nicht weniger will und zählt. Lebendig wird diese epische Heldenreise durch Döblins großartige Sprache. Der 1878 in Stettin geborene und 1957 im Schwarzwald verstorbene Dichter nutzt die modernsten Mittel, die der Roman damals zu bieten hatte: Er montiert Szenen in expressionistischer Manier, verwendet den bodenständigen Dialekt der Berliner, erzählt in aufleuchtenden Rückblenden und stellenweise gegen die Chronologie der Geschichte.

Die Grundidee zu "Berlin Alexanderplatz", so erklärt Döblin selbst, kam ihm in der Ausübung seines Berufs als Arzt. Während seiner Sprechstunden sei er mit vielen Halunken zusammengekommen und habe bemerkt, dass es die Grenze zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen nicht wirklich gibt. In seinem Nachwort zur Neuauflage des Romans von 1955 beschreibt der Autor seinen Arbeitsfluss: "Ich hatte keinen besonderen Stoff, aber das große Berlin umgab mich, und ich kannte den einzelnen Berliner, und so schrieb ich wie immer ohne Plan, ohne Richtlinie drauflos, ich konstruierte keine Fabel; die Linie war: das Schicksal, die Bewegung eines bisher gescheiterten Mannes." Die Geschichte eines gescheiterten Mannes, das ist Franz Biberkopfs Leben. Ein Scheitern, dem wir auch noch achtzig Jahre nach Veröffentlichung des Romans gerne folgen.