Viel zu lässig für Facebook
Von Peter Pisa
Und wenn das Zwergflusspferd zum ersten Mal auftaucht, Seite 43, und man in seine leeren Knopfaugen schaut, wird man sich doch wohl fragen dürfen:
Wär’ nicht genau DAS erstrebenswert?
Ein Leben, das zu nichts führt. Üppige Gelassenheit. Ein Gähnen, weil alles unwichtig ist – sogar die Zeit.
Nein. Auch wenn er sich mit fetten Gedanken das Leben erschwert: Nein.
Denn Julian will "es" gut machen. Was "es" ist, weiß er noch nicht. Er ist 22, Student der Veterinärmedizin und Held in Arno Geigers "Selbstporträt mit Flusspferd".
Julians Weg zur ... Gewissheit (na ja) führt über ein Haus mit Garten in Wien-Donaustadt. Der sterbenskranke Rektor gibt einem Flusspferd Quartier, das aus einem Zirkuswagen befreit wurde. Hier jobbt Julian, er füttert, putzt, denkt nach.
Die erste Trennung hat er hinter sich, schrecklich, sofort verliebt er sich: in die etwas ältere, reifere Tochter des Professors. Kein Wunder, die Begrüßungsworte von Aiko lauteten: "Sagen Sie einfach Prinzessin zu mir." Wow.
Manchmal überlegt Arno Geiger, ob er im 22. Bezirk nachschauen soll: Wohnen Aiko und Julian heute im Haus des Professors? Gibt es eine Kinderschaukel?
Dieser Ton hat gefehlt.
Sein Ton hat gefehlt.
Seit "Der alte König in seinem Exil" (2011) über den an Alzheimer erkrankten Vater war derart Luftiges und zugleich Tiefes über entscheidende Lebensphasen nicht zu kriegen. Sozusagen.
Der "König" starb im vergangenen Sommer.
Arno Geiger ist inzwischen weise geworden, mit 46. Man fühlt sich an Bücher Cees Nootebooms erinnert (an dessen Jugendroman "Das Paradies ist nebenan" sowieso) und spürt Lust, noch einmal den eigenen Platz zu suchen, um diesmal den richtigen zu finden.
KURIER: Ist unter Umständen das Paradies vielleicht tatsächlich nebenan?
Arno Geiger: Das Paradies ist immer nebenan. Wir alle wissen, Glück ist möglich, es befindet sich in der Nähe, ist theoretisch jeden Moment erreichbar. – Und dann scheitert es wieder an der praktischen Umsetzung. Die Tatsache, dass das Paradies in Greifweite liegt und sich trotzdem sehr oft entzieht, ist nervenaufreibend für uns Menschen.
Braucht deshalb jeder ein Flusspferd als Medizin?
Julian, der Protagonist im Roman, nimmt das Flusspferd als ein Wesen wahr, das ganz bei sich ist, ein Wesen, das sich auf sehr vitale Weise nicht darum kümmert, wie es aussieht und wie es ist. Einfach lässig. Beruhigend lässig. Und es steht – in seiner ganzen Natürlichkeit – auch für all das, was heute ein bisschen außer Mode ist. Es ist dick, träge, hässlich, verschlossen. Kein Facebook-Kandidat.
Gibt's da eine Geschichte, wie Sie auf die Romanfigur Flusspferd gekommen sind?
Ich hatte einen Freund, der 2012 an einem Gehirntumor gestorben ist. Ein sehr guter Freund, Kinderarzt. Er hatte mir einige Dinge aus seiner Kindheit und Jugend erzählt, das Buch hat damit zu tun. Auf der Kinderklinik in Innsbruck wurden dieser Freund und ein zweiter Kinderarzt die "Firma Langsam" genannt. Der Freund litt darunter, dass er als Kind dick gewesen war. Davon merkte man nichts mehr, er war schlank und sportlich, aber er hatte ständig Angst, dass das dicke Kind zurückkehrt. Und irgendwie bin ich auf das Zwergflusspferd gekommen und hatte sofort so ein Bauchgefühl, ja, das ist es, das brauche ich, das fehlt mir.
Was steckt aus Ihrem Leben im Buch?
Sehr viel, wie immer, unweigerlich. Wie es sich angefühlt hat, jung zu sein. Emotionale Details. Meine Verlorenheit nach der ersten Trennung mit Anfang zwanzig. Mein Eindruck, dass die Gegenwart sehr zu wünschen übrig lässt. Meine Schwierigkeiten, in mir selber Fuß zu fassen. Solche Dinge.
Ihr Julian ist ein klasser Typ, von dem’s hoffentlich noch mehr auf der Welt gibt.
Mich spricht Julian emotional auch sehr an. Er ist ernsthaft, in manchem naiv, verunsichert, einsam. Einsamkeit ist ein großes Thema in diesem Alter. Mit zwanzig ist der Mensch ungleich verlorener als Menschen, die zehn Jahre älter sind.
Er ist nicht oberflächlich. Und er arbeitet an seiner Verwandlung in einen verantwortungsbewussten Erwachsenen fleißig mit.
Dass Julian das Bedürfnis hat, seine Verlorenheit zu mildern, das macht ihn noch verlorener. Weil er nicht gleichgültig ist. Das Rüstzeug, das nötig ist, um auf alles pfeifen zu können, von wegen, was interessiert mich die Zukunft, dieses Rüstzeug besitzt Julian nicht.
Genau deshalb habe ich mir beim Lesen Sorgen gemacht. Oder haben Sie einen optimistischen Roman beabsichtigt?
Wenn wir einen Blick auf die Welt werfen, ich muss sagen, das Heile können wir abschreiben. Andererseits gehören Julian und auch Aiko zu den Menschen, die nicht dem Schiff einfach nur beim Sinken zusehen. Es gibt da etwas an ihnen, das niemals abstumpfen wird, die Neugier und der Wille, das Schöne festzuhalten und zu bewahren. Insofern geht es nicht um Optimismus oder Pessimismus, sondern darum, Position zu beziehen in Hinblick auf das, was uns wichtig ist.
INFO: Arno Geiger: „ Selbstporträt mit Flusspferd“ Hanser Verlag. 288 Seiten. 20,50 Euro.
KURIER-Wertung: