Kultur

Die Ermordeten liegen noch neben der Straße

Allmählich ist es an der Zeit, die Leichen am Straßenrand nahe Krems Richtung St. Pölten auszugraben.

Die Stadt wird langsam aktiv, und wenn der 70. Jahrestag des Häftlingsmassakers von Krems-Stein ist, dann ist Krems Mitveranstalter der Gedenkstunde im Gefängnis.

Bis vor Kurzem war man eher ... zurückhaltend mit dem offiziellen Erinnern.

Es ist an der Zeit, jene am 6. April 1945 Ermordeten zu suchen und ordentlich zu bestatten, die an der Straße verscharrt wurden.

Vielleicht ist unter ihnen ein Mann, der einen Witz über Hitler erzählt hatte und deshalb zu drei Jahren verurteilt wurde. Auch könnte dort jemand unter der Erde liegen, der von Nachbarn denunziert wurde, weil er englische Nachrichten hörte. Und möglicherweise ein Grieche, denn aus Griechenland wurden viele Widerstandskämpfer ins Gefängnis nach Stein gebracht.

Alles "Politische", die von Direktor Franz Kodré freigelassen worden waren, als die Rote Armee nur 20 Kilometer entfernt war. (Er war nicht nur "gut", er dachte auch an die eigene Zukunft.)

Falsche Namen

In "April in Stein" heißt Kodré anders, nämlich Adolf Kerr. Hier haben fast alle erfundene Namen.

Trotzdem ist dieses Buch wahrer, als man ertragen kann. Wahrheit kann zumutbar UND unerträglich sein.

"April in Stein" fußt auf Interviews von Robert Streibel mit Überlebenden – entstanden ab den 1980ern – und auf Briefen, Nachlässen, Gerichtsakten.

Der Autor ist gebürtiger Kremser und Historiker (und Leiter der Volkshochschule Hietzing). Die einzige Freiheit, die er sich beim dokumentarischen Erzählen erlaubt hat, ist: Die historischen Lebensgeschichten mehrerer Personen verschmelzen mitunter in einzelnen Romanfiguren.

Und das ist Streibel bereits zu viel an "Ungenauigkeit", um den Jägern und Gejagten ihre richtigen Namen zu geben.

In der Schule hat er (Jahrgang 1959) nichts darüber erfahren:

Am Vormittag ließ Franz Kodré die Tore öffnen. Ruhig marschierten die ersten Gefangenen nach draußen.

Sein Stellvertreter – vom "Endsieg" nach wie vor überzeugt – rief die SA, die Wehrmacht und die Wachauer Bevölkerung zu Hilfe und informierte von der "Häftlingsrevolte", die es nicht gab.

Vor dem Gefängnistor wurde daraufhin ein Maschinengewehr platziert ...

Einige Angeschossene überlebten inmitten der Leichenberge. Etwa jener Wiener Arbeiter, der in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik auf eine Klotür "Hoch die Internationale!" gemalt hatte (= sieben Jahre Zuchthaus).

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Der Stein-Direktor und drei Aufseher wurden an der Friedhofsmauer standrechtlich erschossen.

"April in Stein" geht bei der Schilderung des Massakers nicht ins Detail.

Starben 386? Im Roman wird man diese Zahl nicht finden. Sie wird kolportiert, doch deshalb muss sie nicht stimmen.

Denn nicht alle sind mittlerweile bekannt. Über die Toten an der Straße weiß man überhaupt nichts. Wie viele sind es?

Die namentlich bekannten Opfer hätte man aber schon auflisten können – und eine Zeittafel hätte ebenfalls nicht geschadet. Wäre eine gute Gelegenheit gewesen.

KURIER-Wertung:

INFO: Robert Streibel: „April in Stein“ Residenz Verlag. 208 Seiten. 22,90 Euro.