Kultur

Schnitzler im Himalaja-Gebirge

Die Wiener Regisseurin Anna Martinetz verfilmte Arthur Schnitzlers berühmte Novelle „Fräulein Else“ im Indien der Gegenwart. Die Weltpremiere ihrer Literaturadaption wird im Rahmen des morgen startenden Filmfestivals im kanadischen Montreal gezeigt. Bis zum 2. September gehen dort internationale Filme um die Gunst des Publikums ins Rennen. Der Österreich-Start von „Fräulein Else“ ist für 2014 geplant.

In den Bergen Nordindiens, im Himalaja-Vorgebirge, urlaubt die junge Else mit ihrer Tante. Wie aus der Literatur bekannt, erhält sie dort einen Brief ihrer Mutter. In diesem wird sie gebeten, den reichen Familienfreund Dorsday um ein Darlehen zu bitten, um ihren Vater (der Geld veruntreut hat) vor der Verhaftung zu retten. Dorsday nützt die Situation aus und fordert von Else als Gegenleistung, sie nackt sehen zu dürfen.

„Das Original spielt eigentlich in den 20er Jahren in Italien. Auf einer Indienreise 2003 entdeckte ich erstmals diese unglaublichen Kolonialhotels, die irgendwie noch den Charme des alten Europas verströmen: Ich war am Ende der Welt und es schaute aus wie in einem Hotel am Semmering“, erzählt die 34-Jährige lachend.

Kein alter Lüstling

„Unser Fräulein Else ist Mitte Zwanzig und hat gerade ihr Studium abgeschlossen. Wie viele junge Menschen ihrer Generation steht sie in einer wirtschaftlich angespannten Situation vor der Frage, was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen möchte. Ob sie lieber Umweltaktivistin oder Bankerin werden sollte“, erklärt Martinetz.

Dorsday wird hier nicht in gewohnter Manier als alter Lüstling dargestellt, sondern als etwa 40-jähriger Trader, der erfolgreich in der Finanzwirtschaft tätig ist. „Ich fand es spannender, eine Beziehung zu inszenieren, die theoretisch möglich wäre. Dorsday ist gewohnt aus einer Position der Macht zu agieren. Bevor er verliert und sich eingestehen muss, dass er vielleicht doch nicht so ein toller Kerl ist, zerstört er lieber das Objekt seiner Begierde und Zuneigung. “

Zensur und Legenden

Martinetz, die ursprünglich aus dem Dokumentarfilm-Genre kommt, integriert in die Handlung auch immer wieder Szenen aus dem alltäglichen Leben der aufstrebenden Industrienation. Selbst ein Elefant, der gerade in einem Flussbett gewaschen wird, wird spontan in den Dreh miteingebunden. „Die Inder lieben das Kino. Die Menschen konnten uns stundenlang vom Straßenrand aus zuschauen und die Kinder haben die Schauspieler um Autogramme gebeten“, berichtet Martinez.

Auch die eine oder andere interkulturelle Herausforderung stellte sich für das Team: So ließ sich die Nacktszene der Hauptdarstellerin während des Drehs im verglasten Zentralraum des Hotels nicht verstecken. Gäste und Angestellte des Hotels wandten sich mit großer Scham ab. In Indien ist Nacktheit im Film ein großes Tabu, selbst Zungenküsse werden zensuriert.

Auch eine bekannte indische Legende, habe sie in Schnitzlers Novelle miteinfließen lassen. „Es gibt eine Erzählung von einem Büffeldämonen, der für die Gier und den Egoismus stand, und Himmel und Erde terrorisierte. Nur die schöne Göttin Durga, die auf einen Tiger ritt, konnte den Dämon im Kampf schließlich niederstrecken“, erläutert Martinetz.

In der Finalszene, kurz bevor sich Else vor der versammelten Hotelgesellschaft entblößt, leistet ihr deshalb auch ein ausgestopfter Tiger als Requisit Gesellschaft. „Dadurch dass sie sich in ihrer Verletzlichkeit und Menschlichkeit zeigt, gebietet sie Dorsday Einhalt und kehrt diesen Moment in einen Moment der Stärke um“.

Trilogie zum Geld

„Fräulein Else“ ist übrigens der erste Teil einer geplanten Trilogie zum Thema „Geld“. Demnächst wird Anna MartinetzOnkel Wanja“ von Tschechow verfilmen.

„Die Finanzkrise interessiert mich einfach,weil sie menschliche Verhaltensweisen in der Extreme – im Angesicht einer existenziellen Bedrohung – aufzeigt.“