An der Wolga war Keremet Lichtauge fleißig
Von Peter Pisa
Alte Wunden werden in vielen Büchern aufgerissen.
Hingegen geschieht es selten, dass zusätzlich der Pesthauch des Weißen Hains zu den Föhrenwipfel steigt und der Teufel den Namen "Keremet Lichtauge" hat.
Vielleicht hilft ja Ketše Awa, die Sonnenmutter.
Russifizierung
Die 38-jährige Katja Kettu ist, wie Sofi Oksanen, eine finnische Schriftstellerin, die sich mit Identität, mit Macht und den 1930er-, 1940er-Jahren beschäftigt. Damit hat sie großes Interesse geweckt.
Katja Kettu leitet es weiter: ans unbekannte Volk der Mari, das am Wolga-Knie siedelt. (Googelt man "Mari", kommt zuerst die Pizzeria Mari in 1020 Wien.) Am rechten Ufer die Bergmari, links Wiesenmari. Stalin versuchte mit Gewalt, Minderheiten zu russifizieren. Heute passt ein Putin-Mann als Präsident auf Republik Mariland auf.
Ist die Sprache das Wichtigste an "Feuerherz"? Sie kann dich in den Hintern treten und vulgär sein. Wild ist sie, animalisch, und dann ist sie zärtlich und lyrisch.
Katja Kettu streut Wörter aus dem Russischen ein, aus dem Finnischen, auch Mari-Dialektwörter, und manche erfindet sie, und in der Übersetzung liest man von Wruken, die im Keller sind (das sind Rüben) und von Schweinen, die Knochen zergnurpschen. Herrlich, man hört es krachen!
Es ist gleichermaßen die übergroße, wenngleich meisterhaft gebändigte Geschichte, die nicht loslässt:
Im Grenzgebiet flüchtet 1937 die 15-jährige Irga in die Sowjetunion. Sie hat sich in einen Kommunisten verliebt und ist schwanger. Der Mann will nichts mehr von ihr wissen, Irga wird als Spionin zu 25 Jahren Gulag verurteilt, wo die Blatnojs herrschen, die Kriminellen. Ihr späterer Weg führt sie zu den Mari.
Wurzelsuche
Zweite Zeitebene: das Jahr 2015. Irgas Sohn, Professor für Völkerkunde, macht sich im Alter auf die Suche nach Spuren seiner ihm unbekannt gebliebenen Mutter.
Bei den Mari wird er umgebracht. (Seine Tochter, die aus Finnland angereist kommt und ebenfalls ihre Wurzeln sucht, lassen wir jetzt großzügig beiseite.)
Die Mari glauben, dass der Mensch drei Seelen hat, und eine Seele kann die Gestalt eines Nachtfalters annehmen. Der tote Professor hat einen Nachtfalter im Mund. Wenn’s weiter nichts ist. Es wird noch viel mehr passieren. Ein KGB-Mann kommt, ein Oligarch schickt einen Killer usw.
Katja Kettu ist der Meinung, Macht sei immer und überall eine Illusion, denn jeder Diktator sei einzig vom Glauben seiner Untertanen an ihn abhängig.
Darüber würde man gern in ihrem nächsten Roman ausführlich lesen.
Katja Kettu:
„Feuerherz“
Übersetzt von Angela Plöger.
Ullstein Verlag. 432 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern