Kultur

Stinktiere dürfen stolz sein

Sie wollte ihre neunjährige Schwester, die im Stockbett unten lag, umbringen.

Wollte sie nicht. Die Mädchen hatten einander gern. Aber es war eine fixe Idee. Kein Hass, keine Eifersucht. Nur ein kalter Gedanke, der jede Nacht wiederkam.

Alice Munro, damals 14, ist deshalb immer aus dem Haus geschlichen und in den Wald gegangen. Danach erst konnte sie einschlafen.

Einmal, als sie vom Spaziergang heimkehrte, es war etwa vier in der Früh, saß ihr Vater auf der Terrasse (ein erfolgloser Pelzhändler, ein Arbeiter in der Gießerei).

Das passiert halt

Sie redeten zuerst über Schlaflosigkeit, dann verriet ihm Alice ungebremst, was sie so bedrängte.

Er sagte: „Tja.“

Er sagte: „Das ist wirklich kein Grund zur Sorge.“

Er sagte: „Menschen haben manchmal Gedanken, die sie lieber nicht hätten.“

Das passiere im Leben.

Und mit einem Mal waren die Gedanken fort, und von da an konnte sie schlafen.

Wenn sich die heute 82-Jährige daran erinnert, so glaubt sie: Als Mutter hätte sie in einer derartigen Situation unverzüglich einen Termin fürs Kind beim Psychiater ausgemacht.

Aber: „Tatsächlich funktionierte das, was mein Vater tat, genauso gut. Es holte mich, und das ohne Spott und Aufregung, herunter in die Welt, in der wir lebten.“

„Liebes Leben“ ist das vermutlich letzte Buch der kanadischen Nobelpreisträgerin: Sie vergesse, ihrem Alter gemäß, Namen und Wörter, deshalb beabsichtige sie, nichts mehr zu schreiben.

Es sind 14 Erzählungen zum Abschied, jede etwa 30 Seiten lang, jede einfühlsam, liebend, verzeihend, oft nur mit einem leichten bitteren Geschmack am Ende.

Und jede Seite von ihr löst – wie immer – reflexartig die Frage aus: Wer braucht 600 Seiten dicke Romane?

Es sind Geschichten über entscheidende Momente. Etwa: Stunden vor der Hochzeit bringt ein Arzt seine (nicht mehr) zukünftige Frau lieber zum Bahnhof, damit sie zu den Eltern heimfährt.

Es sind Geschichten vom Aufbruch. Alice Munro kommt ja aus einer Zeit, als es geradezu verdächtig war, wenn eine Frau eine politische Bemerkung fallen ließ.

Privates Finale

Neun ihrer Bücher sind zurzeit auf Deutsch erhältlich. Immer enthalten sie Spuren von Selbsterlebtem.

Bei „Liebes Leben“ aber ist der letzte Teil ausdrücklich autobiografisch. Ein Finale über „die ersten und letzten – und die persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe.“

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Über die starke Mutter, die es Ende der 1930er-Jahre schwer hatte, weil sie Lehrerin war und nicht allein Hausfrau und Mutter; früh erkrankte sie an Parkinson.

Über ihr geliebtes Kindermädchen, das nach einem Tanzabend überfahren wurde und Alice (nur sie allein) aus dem Sarg heraus anschaute.

Über den Gedanken, die Schwester zu erwürgen ...

Nach ihrer Lieblingsszene im Buch gefragt, antwortet Alice Munro: Die fünf Baby-Stinktiere, die mitten in der Stadt hintereinander durch einen Hof spazieren. Sie sehen aus, als wären sie stolz auf sich. Zumindest die Stinktiere haben einen Grund dafür.

KURIER-Wertung: